Eine Frau nimmt sich, was sie will

Die ersten Sätze
„Meinst du, das ist das passende Outfit für eine Beerdigung?“
„Mensch, das ist mein schönster Trainingsanzug … aus Samt!“.

Krimi der Woche ∙ N° 40/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Die 38-jährige Blanche de Rigny, gehbehindert seit sie als Teenager mit einem gestohlenen Auto verunglückt war, fragt sich nach einem Besuch auf der bretonischen Insel, von der sie herkommt, woher wohl ihr Nachname komme. Den solche Namen gibt es auf der Insel nicht. Bei ihren Nachforschungen stösst sie auf eine superreiche Familie, die diesen Namen trägt. Sie ist seit Jahrhunderten im Finanzbusiness aktiv. „Die de Rignys verfolgten mit ihrer Geldvermehrung keinerlei Ziel, die Akkumulation von Reichtum war für sie einfach nur ein Prozess.“

Blanche de Rigny ist die Hauptfigur im neuen Roman „Reichtum verpflichtet“ der französischen Anwältin und Autorin Hannelore Cayre. Vor zwei Jahren machte sie mit ihrem witzigen Krimi „Die Alte“ Furore; letztes Jahr lief die Verfilmung von „La darenne“ mit Isabelle Huppert in der Titelrolle in den Kinos. Ihr neuer Kriminalroman folgt im Prinzip demselben Muster: Rebellische Unterschichtsfrau widersetzt sich Obrigkeiten und Mehrbesseren und nimmt sich was sie will. In diesem Fall, um die Welt zu verbessern.

Ihr Job bei den Gerichtsbehörden, wo sie Akten scannt, gibt Blanche Einblicke in das Treiben auch bekannter Persönlichkeiten. Besonders pikante Fälle, gibt sie schon mal an kritische Medien weiter. Sie findet in den Akten aber auch die de Rignys. Und stösst auf die Umwelt bedrohende, krumme Geschäfte der Familie.

Derweil rekonstruiert sie die Geschichte ihres Vorfahren aus dieser Familie in der Zeit des Deutsch-französischen Kriegs und der Pariser Commune. Cayre erzählt abwechselnd in Kapiteln über Blanche in der Jetztzeit und über die Familie de Rigny um 1870, als der Grundstein für ihr Vermögen gelegt wurde. Trotz Ausflügen in die Historie und die Welt der Finanzgeschäfte bleibt die Geschichte, wie schon der vorherige Roman, höchst vergnüglich. In den beiden Zeiten sieht die Autorin übrigens deutliche Parallelen. „Man musste nur Balzac, Zola oder Maupassant gelesen haben, um im eigenen Fleisch zu spüren, dass der Beginn des 21. Jahrhunderts Züge des 19. Jahrhunderts annahm.“ heisst es einmal. „Wer nur seine Arbeit hatte, ohne Aussicht auf ein Erbe, fragte sich, wie zum Teufel er auf einen grünen Zweig kommen sollte.“

Das fragt sich auch Blanche. Und sie will an das grosse Geld. Sie findet Mittel und Wege, dazu beizutragen, die Zahl der Erben des Riesenvermögens der Familie, das in einem Trust auf den Britischen Jungferninseln dem Zugriff der französischen Steuerbehörden entzogen ist, radikal zu dezimieren. So wird „Reichtum verpflichtet“ am Ende zu einem modernen Märchen voller Anarchie und Komik.

Wertung: 4 / 5

Hannelore Cayre: Reichtum verpflichtet
(Original: Richesse oblige. Editions Métailié, Paris 2020)
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021. 255 Seiten, 20 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Louise Carrasco/Editions Métailié

Hannelore Cayre,

geboren 1963 in Neuilly-sur-Seine, die ihren nicht sehr französischen Vornamen ihrer österreichischen Mutter verdankt, war zunächst in der Filmbranche tätig. Den Job als Finanzchefin einer Filmproduktionsfirma gab sie zugunsten der Rechtswissenschaften auf und wurde Strafverteidigerin. 1991 wurde sie bei einem Autounfall in Chile beinahe querschnittgelähmt.

Sie hat mehrere Drehbücher geschrieben und eigene Kurzfilme realisiert. Seit 2004 veröffentlichte sie sechs Romane. Im Zürcher Unionsverlag sind vor Jahren zwei Romane um den Lumpenadvokaten Leibowitz auf Deutsch erschienen, „Der Lumpenadvokat“ (2007; „Commis d’office“, 2004) und „Das Meisterstück“ (2008; „Toiles de maître“, 2005). „Commis d’office“ hat Hannelore Cayre selbst verfilmt.

2019 erschien bei Ariadne im Hamburger Argument Verlag der Roman „Die Alte“ (Original: „La daronne“, 2017), der mit dem Grand Prix de Littérature Policière ausgezeichnet worden war. Die Verfilmung von „La daronne“ durch Regisseur Jean-Paul Salomé mit Isabelle Huppert in der Titelrolle kam 2020 in die Kinos. Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „Reichtum verpflichtet“ erschien im Original („Richesse oblige“) 2020 und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit Prix du Noir Historique.

Hannelore Cayre lebt in Paris.


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