Jagd auf eine Jägerin

Der erste Satz
Die Zeit ist gekommen, sich den Menschen zu stellen, die zweibeinigen Silhouetten ragten in der Dämmerung auf wie wandelnden Bäume, ihm jetzt so nah, kaum drei Sätze, dann hätte er sie, und ihr Geruch, mit nichts zu vergleichen, bitterer Schweiss und ferne Erde, und ihre unverständlichen Laute, und ihre Haut, bedeckt mit anderer Haut, die nicht ihre eigene war, noch nie war er ihnen so nah gekommen, sie hatten ihn erst dazu getrieben, einen ganzen Tag lang hatte er sie gewittert, ihm auf den Fersen, einen ganzen Tag lang herumstreifen im bush, unter den Kameldornbäumen durchkriechen, dicht an den sonnenentflammten Steinmauern entlangstreichen, hundertmal seine Fährte legen, auf und ab, von Busch zu Busch, die Tatzen in die eigenen Abdrücke setzen, unzählige Umwege zwischen den Baumstämmen, alles, damit sie aufgaben, einen ganz Tag lang Freiwild sein, kein Raubtier mehr, mit der Geduld am Ende, verärgert, Nerven zum Zerreissen gespannt, einen ganzen Tag lang, jetzt hatte er ihn beendet, ihnen bloss nicht diesen Sieg überlassen, nicht er, nicht hier, nicht in dieser Wüste, die er seit jeher durchstreifte, in- und auswendig kannte, die Listen und Tücken, eiskalte Nächte und brennend heisse Tage, die Stunden, wenn Schatten kostbar wurde, die windgeformten Sandmeere, die Wanderdünen, in denen seine Schritte einsanken, wenn die Strausse Reissaus nahmen, die Gewitter, die manchmal tobten und einem bis unter die Augenlider peitschten, die unendlich weiten Wege zwischen mickrigen, salzhaltigen Oasen, wo die Beute trank, die Steinwüsten mit ihrer hundertjährigen Flora, die dort wurzelte, die krummen Stämme von Mopane und Ebenholzgewächsen, die Felswände der ausgetrockneten Flussbetten, wie man sich dort bei der Jagd auf Bergzebras in der Senkrechten bewegen musste, und auch die Strände, der Ozean, der die Skelettküste verschlang, unverhoffte Kadaver gestrandeter Wale und vor Jahrzehnten zerschellter Menschenschiffe.

Krimi der Woche ∙ N° 44/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eine junge blonde Frau steht mit einem Hightech-Pfeilbogen irgendwo in Afrika vor einem blutenden Löwen. Das Bild im Internet lässt Martin nicht mehr los. Er ist Ranger im Nationalpark in den französischen Pyrenäen. Er schützt in seinem Job Natur und Tiere. Doch er findet, dass die Politik, die Behörden und auch seine Chefs viel zu nachsichtig vorgehen. Er gehört zu radikalen Jagdgegnern, die Bilder von Jägern mit ihren Trophäen im Internet verbreiten. Oft mit gravierenden Folgen für die Angeprangerten. „Wir hatten lediglich die Fotos wieder ausgegraben und sie sichtbarer gemacht, den Rest hatte die Magie der sozialen Netzwerke besorgt“, rechtfertigt sich Martin. „Ich sah uns als Whistleblower in Sachen Tierschutz, die Tiere hatten es bitter nötig.“

Martin findet heraus, dass die Löwenjägerin ganz in der Nähe lebt. Ihn packt eine brennende Wut: Die Frau soll zu spüren bekommen, was es heisst, gejagt zu werden. So beginnt der neue Roman „Unter Raubtieren“ von Colin Niel. Erst im vergangenen Frühjahr hat der Franzose mit dem Thriller „Nur die Tiere“ gezeigt, wie raffiniert er einen Plot aufzubauen versteht. Auch im neuen Roman erzählt er die Geschichte aus den Blickwinkeln mehrerer Protagonisten, darunter sogar Tiere.

Der Tierschützer Martin und die Bogenschützin Apolline sind die Hauptfiguren. Niel verschränkt parallel zwei zeitlich versetzte Handlungsstränge: auf der einen Seite die Geschichte vom Auftauchen des Löwenfotos, der Suche nach der Jägerin und der Jagd auf sie, auf der anderen Seite die vorangegangene Geschichte der Löwenjagd in Namibia, die Apolline von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt bekommen hat.

Es wäre einfach, die Geschichte auf „guter Tierschützer vs. böse Jägerin“ zu trimmen. Das wäre jedoch zu simpel für Colin Niel, der auf wohlfeiles Moralisieren verzichtet. Der Evolutionsbiologe und Ökologe, der selbst einen Nationalpark geleitet hat, packt die ganze Komplexität des weiten Themenkreises – von Tierschutz und Jagd in Frankreich und in Afrika bis zu den Auswirkungen des Klimawandels – in seinen spannenden Ökothriller. So lernen wir auch die Sicht afrikanischer Hirten kennen, deren Tiere von Raubtieren gerissen werden, weil diese wegen der zunehmenden Dürre kaum noch Wild finden.

Der zunächst sympathisch wirkende Aktivismus des rebellischen Tierschützer wird zunehmend fanatischer. Die Rollen der Hauptprotagonisten wechseln. Apolline wird von der Jägerin zur Gejagten, Martin vom militanten Jagdgegner zum Jäger. Und er muss sich schliesslich der Frage stellen, wo sich Überlebensinstinkt und Jagdinstinkt überschneiden.

Wertung: 3,8 / 5

Colin Niel: Unter Raubtieren
(Original: Entre fauves. Editions du Rouergue, Rodez 2020)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2021. 403 Seiten, 24 Euro/ca. 33 Franken

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Bild: PD

Colin Niel,

geboren 1976 in Clamart, einer Kleinstadt im Grossraum Paris, studierte Evolutionsbiologie und Ökologie. Er arbeitete als Agrar- und Forstingenieur und lebte mehrere Jahre in Französisch-Guayana, wo er massgeblich an der Gründung des Amazonasparks mitwirkte. Er lebte zudem in Paris, Lille, Montpellier und im französischen Übersee-Département Guadeloupe, wo er stellvertretender Direktor des dortigen Nationalparks war.

Als Autor gelang ihm der Durchbruch mit der sogenannten guyanischen Serie, vier Romanen, die von 2012 bis 2018 erschienen sind und vielfach ausgezeichnet wurden. 2017 veröffentlichte er ausserhalb dieser Serie den im vergangenen Frühjahr unter dem Titel „Nur die Tiere“ auf Deutsch erschienen Thriller „Seul les bêtes“. Der mehrfach ausgezeichnete Roman war die Vorlage für den gleichnamigen Film von Dominik Moll. Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „Unter Raubtieren“ („Entre fauves“) erschien im Original 2020.

Colin Niel lebt zurzeit in Marseille, wo er sich dem Schreiben widmet.


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