Tristesse und Tod im französischen Jura

Der erste Satz
Das Porträt meiner Frau Remedios von der Feier am Vorabend unseres Hochzeitstags würde für immer im Büro meiner Tankstelle bleiben.

Krimi der Woche ∙ N° 36/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Bei Jean Seghers läuft es im Moment nicht so gut. Für seine Tankstelle musste er Insolvenz beantragen. Seine Frau Remedios geht offenbar fremd. Sein entlassener Mitarbeiter drängt auf die Auszahlung der vereinbarten Abfindung. Seghers hat das Geld dafür nicht. Bei einem Besuch klaut er seiner Mutter etwas Geld, um den Angestellten für den Moment zu beruhigen.

Trotz der ganzen Misere tut Seghers, als ob alles in Ordnung wäre, als ob er alles im Griff hätte. Er ist der Icherzähler im schmalen Roman „Die Abfindung“ von Yves Ravey. Nüchtern und unaufgeregt erzählt er vor den Vorgängen in seiner Tankstelle und darum herum. Als ob er uns Lesende einlullen wollte, um zu zeigen, was für ein harmloser und freundlicher Mensch er ist.

Yves Ravey, ein begnadeter Noir-Autor aus dem französischen Jura, wo sein Roman auch spielt, verzichtet fast ganz auf eine Psychologisierung seiner Figuren. Er lässt seinen Protagonisten schwadronieren, den Verkauf der Tankstelle planen, seiner Frau nachspionieren und von einer grossen Tankstelle an einer Autobahn träumen. Dabei markiert Seghers zunächst den braven Patron, der für alle nur das Beste will. Dass er ein tief einsamer Mensch ist, zeigt sich nicht nur in langen Nächten beim Warten auf die Heimkehr seiner Frau, sondern auch, wenn er einmal ein paar Leute um sich hat. So an einem Grillfest im privaten Bereich der Tankstelle, zu dem neben dem entlassenen Mitarbeiter samt Frau und Kindern auch die Mutter und ihr neuer Freund kommen – und dazu der Präsident des Handelsgerichts, der mit dem Insolvenzverfahren betraut ist, sich aber gleichzeitig überlegt, die Tankstelle zu kaufen, und der von Seghers verdächtigt wird, ein Verhältnis mit seiner Frau zu haben.

Unterschwellig macht die raffinierte Erzählung von Anfang an spürbar, dass Seghers kurz vor der Explosion steht. Man fragt sich schon bald, welcher Funke diese auslösen wird. Und was er dann tun würde. Auch davon und von den schwerwiegenden Folgen erfährt man durch den immer gelassen wirkenden Erzählfluss des Protagonisten.

Gerade mal gut hundert Seiten, kleine Seiten noch dazu, braucht Yves Ravey für diese Geschichte, die mit Schwierigkeiten beginnt und ganz tief in Tod und Elend endet. Beeindruckend ist, wie dicht und konzentriert seine Erzählweise ist. Was vordergründig als beiläufig und gar etwas banal daherkommt, ist äussert präzis. Kein Wort ist zu viel. Was weggelassen wurde, schwingt mit. Minimalismus sorgt für den maximalen Effekt. Obwohl fast jede Emotionalität vermieden wird, drückt dieser schwarze Roman eine grosse Tristesse mit existenzialistischer Dimension aus.

Wertung: 4,8 / 5

Yves Ravey: Die Abfindung
(Original: Adultère. Les Editions de minuit, Paris 2021)
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, München 2022. 110 Seiten, 20 Euro/ca. 27 Franken

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Bild: Mathieu Zazzo

Yves Ravey,

geboren 1953 in Besançon im französischen Jura unweit der Grenze zur Schweiz, war viele Jahre Professor für Französisch und für bildende Kunst am Gymnasium Stendhal in seiner Heimatstadt.

Nachdem viele seiner Manuskripte abgelehnt worden waren, erschien sein erster Roman „La table des singes“ 1989 im renommierten Verlag Gallimard, dies dank der Vermittlung durch Pascal Quignard, der zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Frankreichs zählt, im deutschen Sprachraum aber kaum bekannt ist.

Inzwischen hat Ravey 18 Romane und mehrere Theaterstücke veröffentlicht. Für „Le Drap“ (2002) wurde er 2004 mit dem Prix Marcel Aymé ausgezeichnet. 2011 erhielt er für sein Gesamtwerk den Prix Renfer – benannt nach dem Schriftsteller Werner Renfer (1898–1936) aus dem Schweizer Jura. Vor dem jetzt auf Deutsch vorliegenden „Die Abfindung“ („Adultère“, 2021) sind im Verlag Antje Kunstmann zwei frühere Kriminalromane auf Deutsch erschienen: „Bruderliebe“ (2012; „Enlèvement avec rançon“, 2010 ) und „Ein Freund des Hauses“ (2014; „Un notaire peu ordinaire“, 2013). „Bruderliebe“ wurde 2013 vom deutschen WDR-Radio auch als Hörspiel umgesetzt.

Ravey schreibt in der Tradition des Roman noir, wobei er das Rabenschwarze seiner Geschichten geschickt in zunächst banal wirkenden Schilderungen versteckt. Obwohl er auf die Nennung eines konkreten Handlungsortes verzichtet, spielen seine Romane klar in der Region Franche-Comté um Besançon, wo der Autor nach wie vor lebt.


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