krimikritik.com

View Original

Eigentlich wird dem Opfer der Prozess gemacht

Der erste Satz
Vollblüter. Jede Einzelne. Bereit für das Rennen, alle Muskeln gespannt. Gestriegelt, in teuren, dezenten Designer-Hosenanzügen in Grau oder Dunkelblau, klassischen weissen Blusen, schwarzen Roben.

Krimi der Woche ∙ N° 09/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Tessa Ensler ist eine aufstrebende Strafverteidigerin in London. Aus einer Unterschichtsfamilie in Luton kommend, konnte die dank hervorragenden Schulleistungen mit einem Stipendium in Cambridge studieren. Und macht nun bei einer renommierten Kanzlei Karriere. Fast alle ihre Kolleg:innen kommen aus der besseren Gesellschaft, auch aus Familien mit Tradition in der Jurisprudenz. Tessa macht ihre vergleichsweise schwierigeren Voraussetzungen mit Ehrgeiz und harter Arbeit wett. Immer wieder vertritt sie auch Angeklagte in Sexualdelikten. Und sucht bei den Opfern nach Aussagen, die ihre Glaubwürdigkeit wenn nicht zerstört, so doch beinträchtigt.

Sie hat damit kein Problem. Es geht ihr nur um die juristische Wahrheit. Die sich nicht unbedingt mit der eigentlichen Wahrheit decken muss. Es geht darum, das Gesetz buchstabengetreu anzuwenden. Davon ist Tessa felsenfest überzeugt. Bis sie eines Tages auf der anderen Seite steht: Die Affäre mit einem Kollegen aus der Kanzlei ist in eine Vergewaltigung ausgeartet. Sie erstattet Anzeigen. Und muss als Zeugin nun selbst vor Gericht aussagen.

„Prima facie“ heisst der erste Roman der erfolgreichen australischen Theaterautorin Suzie Miller, die früher selbst Rechtsanwältin war und mit einem Richter am höchsten Gericht Australiens verheiratet ist. „Prima facie“ ist ein aus dem Lateinischen kommender juristischer Begriff, der in etwa „dem ersten Anschein nach“ bedeutet; auf Deutsch gibt es dafür den Begriff Anscheinsbeweis. Der Roman basiert auf Millers gleichnamigen Einpersonenstück, das international aufgeführt und vielfach ausgezeichnet wurde.

Auch die Romanfassung ist durchaus interessant. Anschaulich wird erklärt, wie Strafverteidigung im Allgemeinen und in Grossbritannien im Besonderen funktioniert. Vor allem auch, was für Laien am Vorgehen der Juristen oft schwer verständlich ist. Etwa, dass für Verteidiger:innen nicht unbedingt relevant, ob ein Angeklagter die ihm vorgeworfenen Tat tatsächlich begangen hat oder nicht. Sondern dass es darum geht, dass das Gesetz ihm gegenüber korrekt angewendet wird. Solche und andere Aspekte rund um Strafprozesse werden indes manchmal nicht nur etwas gar ausführlich, sondern auch wiederholt ausgeführt. Dieses Übererklären schadet dem Fluss der Erzählung, nimmt ihr einen Teil der Spannung und ist literarisch nicht interessant gelöst.

Das ist schade, denn das ist Thema brisant. Es geht insbesondere darum, wie die Justiz mit Opfern sexueller Übergriffe umgeht, wie Opfer unglaubwürdig gemacht werden oder ihnen gar unterschwellig unterstellt wird, den Übergriff provoziert zu haben. Auch Tessa überlegt sich immer wieder, ob sie das wirklich durchziehen will, ob sie sich den Herausforderungen vor Gericht, die sie von der anderen Seite bestens kennt, als Zeugin der Anklage wirklich stellen soll. Sie fragt sich auch, ob sie damit, dass sie den Spross einer renommierten Juristenfamilie beschuldigt, nicht ihre Karriere aufs Spiel setzt. Aber letztlich bleibt sie dabei. Denn wenn man ihn einfach so davonkommen lasse, werde er es wieder tun. Eine Haltung, die nicht selbstverständlich ist. Nur jede zehnte Frau geht nach einem sexuellen Übergriff zur Polizei. Nur ein Teil davon zieht das dann durch bis zu einem Prozess. Der dann für das Opfer allzu oft erniedrigend ist. Auch für Tessa: „Er hat mir das angetan. Und doch fühlt es sich an, als würde mir der Prozess gemacht.“ Und die Erfolgsaussichten sind gering: In nur 1,3 Prozenten dieser Prozesse kommt es im Vereinigten Königreich zu einer Verurteilung des Angeklagten. Das sind dramatische Verhältnisse. Diese publikumswirksam auf die Bühne und zwischen Buchdeckel zu bringen, ist verdienstvoll.

Nach dem Theatererfolg und dem Roman ist auch eine Verfilmung des Stoffs in Arbeit.

Wertung: 3,7 / 5

Suzie Miller: Prima facie
(Original: Prima facie. Picador Australia, Sydney 2023)
Aus dem Englischen von Katharina Martl
Kjona Verlag , Berlin 2024. 352 Seiten, 25 Euro/ca. 35 Franken

Bestellen bei Amazon


Bild: ©privat/Kjona Verlag

Suzie Miller,

geboren 1963 oder 1964 (es gibt keine Angabe in den biografischen Texten) in Melbourne, studierte zunächst Immunologie und Mikrobiologie an der Monash University in Melbourne. An der University of New South Wales in Sydney schloss sie in Rechtswissenschaften ab und war dann als Rechtsanwältin für Menschenrechte und Kinderrechte tätig. Am National Institute of Dramatic Art in Sydney studierte sie Stückeschreiben.

Ihr erstes Theaterstück „Cross Sections“ wurde 2004 uraufgeführt. Seither hat sie zahlreiche Stücke geschrieben, daneben auch Libretti und Drehbücher. Für ihre Stücke wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

„Prima facie“ ist ihr erster Roman. Er basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück, das 2019 in Australien uraufgeführt wurde. Es wurde unter anderem auch im Londoner West End in London und mehrere Wochen am Broadway in New York gespielt und mit zahlreichen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Das Einpersonenstück wurde in mehrere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche, und es wurde und wird auf Bühnen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich aufgeführt.

Suzie Miller ist mit dem Juristen Robert Beech-Jones verheiratet, der Richter am High Court of Australia ist, dem höchsten Gericht Australiens. Das Paar hat zwei Töchter. Miller lebt in Sydney und in London.


Weitere Autoren A–Z