Der letzte le Carré

Der erste Satz
An einem regengepeitschten Vormittag gegen zehn Uhr im Londoner West End trat eine junge Frau mit um den Kopf gewickeltem Tuch und in einem weiten Anorak entschlossen in den Sturm, der über die South Audley Street fegte.

Krimi der Woche ∙ N° 42/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eine junge Frau bringt einen Brief ihrer Mutter einem Mann in London. In einem kleinen Küstenort im Süden Englands eröffnet ein jüngerer Mann, der in der Londoner City ein erfolgreicher Banker war, eine Buchhandlung. In Londoner Geheimdienstkreisen herrscht aus undurchsichtigen Gründen Aufregung. Der Neo-Buchhändler bekommt Besuch eines mysteriösen alten Mannes, der offenbar mit seinem Vater bekannt war.

Wie oft in seinem Romanen reiht John le Carré, der im Dezember 2020 verstorben ist, auch in seinem letzten Werk „Silverview“ zunächst unzusammenhängend erscheinende Szenen aneinander. Wie verstreute Puzzleteile liegen sie vor einem. Erst nach und nach fügen sich einzelne Teile zusammen, und so etwas wie ein Gesamtbild ergibt sich erst zum Schluss.

Auch wenn dieses letzte Werk mit rund 250 Seiten nicht zu den umfangreichsten Büchern le Carrés zählt, erfordert es beim Lesen einige Aufmerksamkeit, um keine der diversen kleinen Hinweise zu verpassen. Wenn etwa der bei einer Szene in London ein schwarzer Peugeot erwähnt wird und dann einige Zeit später im Küstenort im Süden ein schwarzer Peugeot gesehen wird, hat das eine Bedeutung, ohne dass darauf hingewiesen würde.

Am Ende der immer etwas verworren bleibenden Handlung stellt sich die Frage, ob für den für seine ausgeklügelten Plots berühmten Autor dieser Roman wirklich fertig zur Publikation war. Manches wirkt etwas skizzenhaft. Die Figuren bleiben oberflächlich gezeichnet, man vermisst zuweilen die psychologische Tiefe, die le Carré sonst auszeichnet. Man hat das Gefühl, eine Überarbeitung hätte dem Werk nicht geschadet. Offenbar hatte le Carré mit diesem Roman schon vor vielen Jahren begonnen, ihn dann zugunsten anderer Buchprojekte aber wieder liegengelassen und später wieder daran gearbeitet. Vor der Veröffentlichung wurde „Silverview“ von Nick Harkaway, dem ebenfalls als Schriftsteller tätigen Sohn des Autors, der sich nun um den Nachlass seines Vaters kümmert, redigiert, ohne dass klar ist, wie viel er daran tatsächlich gemacht hat.

Faszinierend ist der recht desillusionierte Blick auf das wild herumwurstelnde Geheimdienstpersonal. Von einem „noch nie dagewesenen Riesenschlamassel allererster Güte“, spricht eine Geheimdienstler einmal. Man bekommt den Eindruck eines voll mit sich selbst beschäftigten Haufens, in dem jede und jeder ein eigenes Spiel spielt und in dem fast alle den glorreichen Zeiten Grossbritanniens als Weltmacht nachtrauern. Aber solche Geschichten erzählen neuere Autoren wie etwa Mick Herron mit seiner „Slow Horses“-Reihe (bei Diogenes) besser.

Wertung: 2,5 / 5

John le Carré: Silverview
(Original: Silverview, Viking, London 2021)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ullstein, Berlin 2021, 252 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Fr.

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Bild: White Hare/Ullstein Verlag

John le Carré,

bürgerlich David Cromwell, wurde 1931 in Poole in der südwestenglischen Grafschaft Dorset geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit und Jugend. Seine Mutter verschwand, als er fünf Jahre alt war, und er traf sie erst wieder, als er 21 war. Der Vater war ein berüchtigter Hochstapler und Betrüger. Mit 17 „flüchtete“ er in die Schweiz, wo er 1948/1949 an der Universität Bern Germanistik studierte. Er blieb der Schweiz immer eng verbunden.

Ab 1950 arbeitete er in Österreich für den britischen Geheimdienst. In England war er dann für den Inlandgeheimdienst MI5 tätig, später für den Auslandgeheimdienst MI6, für den er in Bonn, Hamburg und Berlin im Einsatz war. 1964 verliess der den Geheimdienst, um sich dem Bücherschreiben zu widmen.

In seinen Büchern ging zuerst vor allem um den Kalten Krieg. Später beschäftigten sie sich auch mit Themen wie Terrorismus und Waffenhandel. 1961 erschien der erste Roman der Serie mit dem englischen Agenten George Smiley. Der grosse Durchbruch stellte sich mit dem dritten Smiley-Roman, „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (1963) ein, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Es folgten weitere Smiley-Romane, insgesamt waren es neun bis 2017. Dazwischen publizierte le Carré auch zahlreiche erfolgreiche Einzeltitel, die meisten wurden ebenfalls verfilmt, darunter etwa „Die Libelle“ (1983), „Das Russlandhaus“ (1989), „Der Nachtmanager“ (1993), „Der Schneider von Panama“ (1996) und „Der ewige Gärtner“ (2001).

John le Carré zählt über das Genre des Politthrillers hinaus zu den bedeutendsten englischen Schriftsellern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Werke erschienen weltweit, erreichten Millionenauflagen und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

John le Carré war von 1954 bis 1972 mit Alison Ann Veronica Sharp verheiratet, mit der er drei Söhne hatte. 1972 heiratete er die Lektorin Valérie Jane Eustace. Mit ihr hatte er einen Sohn, der unter dem Namen Nick Harkaway als Schriftsteller tätig ist und sich jetzt um den Nachlass seines Vaters kümmert. Le Carré starb kurz vor Weihnachten 2020 in Truro in der Grafschaft Cornwall im Südwesten Englands an den Folgen einer Lungenentzündung.


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