Wer ist der furchtbar zugerichtete Tote?

Der erste Satz
Alle drei Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg.

Krimi der Woche ∙ N° 49/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Am Anfang steht eine Beerdigung in Irland. Einer von drei Brüdern ist plötzlich und auf entsetzliche Art zu Tode gekommen. Er habe nicht als Verdächtiger gegolten, lässt uns einer der beiden überlebenden Drumm-Brüder wissen, und er fühle sich „so frei und erleichtert, wie schon lange nicht mehr“. Was im anderen noch lebenden Bruder vorgehe, wisse er nicht, doch auch er müsse wissen, „dass es so letztlich am besten war“.

Drei Brüder. Einer tot. Ein zerschmetterter, furchtbar zugerichteter Leichnam. So viel verrät die irische Autorin Liz Nugent auf der ersten Seite ihres Romans „Kleine Grausamkeiten“. Aber welcher ist tot? Und wer ist dafür verantwortlich? Das erfährt man erst rund 380 Seiten später.

Liz Nugent hat dafür eine raffinierte Erzählstruktur ausgeheckt. Sie lässt alle drei Brüder die Geschichte in Rückblicken aus ihrer Sicht erzählen. In drei grossen Blöcken kommen sie zu Wort, zuerst William, genannt Will, der älteste, dann Brian, der mittlere, und schliesslich Luke, der jüngste Bruder. Die Rückblicke sind nicht chronologisch, doch die Angabe der Jahreszahlen als Kapiteltitel erleichtert die Einordnung.

Will ist der Liebling der Mutter. Er wird zum erfolgreichen Filmproduzenten. Doch er ist ein selbstsüchtiger und sexistischer Widerling. Luke wird von der Mutter klar benachteiligt, und auch die älteren Brüder machen es ihm nicht leicht. Er wird zum erfolgreichen Popstar, doch psychische Erkrankungen und Suchtprobleme lassen ihn immer mal wieder ausrasten. Brian ist geldgierig und bringt sein Leben nicht richtig auf die Reihe. Er managt zeitweise Luke und bereichert sich dabei hemmungslos. Auch indem er schlimme Geschichten über ihn an die Boulevardmedien verkauft. Mindestens eine Mitschuld an der fatalen Entwicklung der Brüder hat die Mutter, eine narzisstische Sängerin und Schauspielerin.

Dass dreimal zum Teil die gleichen Ereignisse erzählt werden, ist keineswegs langweilig. Im Gegenteil, das macht einen Teil der Spannung aus. Denn jeder stellt sich eher positiv dar, und erst durch die unterschiedlichen Blicke erschliesst sich, wie die Brüder wirklich sind und was tatsächlich geschehen ist. Und das ist zuweilen wahrlich grausam. Die „kleinen Grausamkeiten“ in der Familie Drumm sind nicht gelegentliche Ausrutscher, sondern haben System. Und sie summieren sich so, dass sie mehr als nur psychische Schäden hinterlassen. Sondern tödlich enden.

Die kunstvoll geplottete Mischung aus Familiendrama, Coming-of-Age-Story und Psychothriller zeichnet ein sehr düsteres Bild. Doch bei aller Grausamkeit macht trockener, eher schwarzer Humor die Lektüre auch höchst vergnüglich.

Wertung: 4,2 / 5

Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten
(Original: Our Little Cruelties. Penguin, Dublin/London 2020)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Steidl, Göttingen 2021. 400 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: ©Liz Nugent

Liz Nugent,

geboren 1967 in Dublin, Irland, besuchte eine katholische Privatschule. Nach der Schulzeit zog sie zunächst nach London. Zurück in Irland absolvierte sie einen Schauspielkurs an der Gaiety School of Acting, wechselte aber bald ins Stage Management.

Als Stage Manager der Show „Riverdance“ tourte sie durch die ganze Welt. Danach arbeitete sie bei RTÉ, dem nationalen irischen Radio und Fernsehen, unter anderem für die Soap „Fair City“. Sie schrieb verschiedene Texte und Drehbücher für TV-Sendungen, Hörspiele und Theaterstücke.

2014 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Unravelling Oliver“ (Deutsch: „Die Sünden meiner Väter“, Bastei-Lübbe), der sehr erfolgreich war. Bestseller in Irland waren auch die mit mehreren Preisen ausgezeichneten Bücher „Lying in Wait“ und „Skin Deep“. Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „Our Little Cruelties“ („Kleine Grausamkeiten“) ist ihr vierter Roman. Ihre Bücher werden inzwischen in 15 Sprachen übersetzt.

Als sie sechs Jahre alt war erlitt Liz Nugent eine Hirnblutung, als Folge leidet sie seither an Dystonie, einer seltenen neurologischen Erkrankung. Sie lebt in Dublin.


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