Die dunklen Geheimnisse des Pastors

Der erste Satz
Kurz vor Tagesanbruch vibriert das Handy auf meinem Nachttisch.

Krimi der Woche ∙ N° 50/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Anrufe im Morgengrauen verheissen selten Gutes. Pastor Richard Weatherford schleicht am Ostersamstag früh aus dem Schlafzimmer, nachdem sein Handy vibriert hat, damit seine Frau ihn nicht hört beim Telefonieren. Gary, ein junger Mann aus der Gemeinde, mit dem der Pastor und Familienvater eine sexuelle Beziehung eingegangen ist, will ihn sehen. Sofort. Beim Treffen verlangt er Geld. 30'000 Dollar. Dann verlasse er den Ort. Andernfalls stelle er den Kirchenmann bloss.

Schon auf den ersten Seiten des Kriminalromans „Verdorrtes Land“ zeigt sich der US-Autor Jake Hinkson als grossartiger Erzähler. Er versteht es, einen mit wenigen Sätzen nicht nur mitten in eine spannende Geschichte zu ziehen, sondern auch in einen ruralen Mikrokosmos im sogenannten Bible Belt der USA. Hinkson weiss, wovon er erzählt. Er ist dort aufgewachsen, in einem Kaff in den Ozark Mountains in Arkansas, in einer frommen Familie. Der Vater Diakon, die Onkel Pastoren.

Hinksons vierter Roman spielt im Van Buren County in Arkansas. Ein sogenanntes „Dry County“, wie der Roman im Original heisst. Doch nun gibt es Bestrebungen, das Alkoholverbot aufzuheben, wogegen sich nicht nur Pastor Wheaterford wehrt. Es ist 2016, noch hoffen die frommen Menschen hier, dass Ted Cruz und nicht Trump das Rennen um die Präsidentschaft macht.

Der vom Weg, den er predigt, abgekommene Pastor sieht sich nicht als Homosexueller. Denn solche gebe es gar nicht – sonst hätte Gott sie ja erschaffen. Seine „frevelhafte Tändelei“, wie er es nennt, ist jedoch nicht das dunkelste Geheimnis des Predigers. Denn da sind noch seine zunehmenden Zweifel, ob es Gott wirklich gibt.

Bruder Weatherford, wie er genannt wird, hat keine 30'000 Dollar greifbar, um den jungen Erpresser zu bezahlen. In Panik um seinen Ruf, seine Familie, seinen Job, ja sein ganzes Leben bietet er dem Mann, der das Alkoholverbot kippen und einen Schnapsladen eröffnen will, an, gegen 30'000 Dollar mit politischen Tricks für eine Mehrheit für die Aufhebung des Verbots zu sorgen. Doch auch der Möchtegernalkoholverkäufer hat kein Geld. Um es zu beschaffen, überfällt er seinen ehemaligen Arbeitgeber. Damit beginnt sich eine Spirale der Gewalt unaufhaltsam zu drehen.

Das alles passiert an diesem Samstag vor Ostern, während der Pastor mit der Vorbereitung des Ostergottesdienstes mit Passionsspiel beschäftigt ist. Virtuos komprimiert Hinkson die komplexe Geschichte um Gewalt, Leidenschaft, Erpressung, Korruption, Mord und Bigotterie auf diesen einen Tag. Auf den letzten Seiten folgt ein geradezu teuflischer Epilog, der ein Jahr später spielt. Das ist Country Noir der Spitzenklasse.

Wertung: 4,7 / 5

Jake Hinkson: Verdorrtes Land
(Original: Dry County. Pegasus Books, New York 2019)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Polar Verlag, Stuttgart 2021. 374 Seiten, 15 Euro/ca. 23 Franken

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Bild: Michelle Graves

Jake Hinkson,

geboren 1975 im US-Bundesstaat Arkansas, ist in einer frommen Familie aufgewachsen. Sein Vater war Diakon einer evangelischen Kirche, seine Mutter arbeitete im Sekretariat einer Kirche. Ab dem 14. Lebensjahr lebte er in einer von seinen Onkeln und Tanten geleiteten religiösen Gemeinschaft in einer abgelegenen Gegend in den Ozark Mountains in Arkansas.

Als Teenager entdeckte er die Kriminalliteratur. An der Universität las er mit Leidenschaft William Faulkner und Emily Dickinson. Er heiratete die Tochter eines Pfingstpredigers, verlor dann aber seinen Glauben. Er nahm sein Studium wieder auf, besuchte Schreibkurse und arbeitete in einer Buchhandlung in Little Rock. Er schrieb Beiträge für Magazine wie „The Los Angeles Review of Books“, „Mental Floss“, „Mystery Scene“ und „Noir City“.

2011 veröffentlichte er seinen ersten Kriminalroman „Hell on Church Street“, dessen französische Übersetzung 2016 mit dem Prix Mystère de la Critique ausgezeichnet wurde. Es folgten die Romane „The Posthumous Man“ (2012) „The Big Ugly“ (2014) und „No Tomorrow“ (2015). „Dry County“ (2019) ist sein erster Roman, der ins Deutsche übertragen wurde.

Ausserdem publizierte Hinkson den Kurzroman „Saint Homicide“, die Kurzgeschichtensammlung „The Deepening Shade“ und den Essayband „The Blind Alley: Exploring Film Noir’s Forgotten Corners“.

Heute lebt Jake Hinkson in Chicago.


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