Wer vergiftete 17 Menschen bei einer Familienfeier?

Der erste Satz
Kannst du dich an irgendetwas erinnern?

Krimi der Woche∙ N° 12/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es war ein stürmischer Tag, an dem die angesehene Arztfamilie Aosawa zu einem Geburtstagsfest lud. Der Doktor wurde 60, seine Mutter 88. Älter wurden sie nicht mehr. Nachdem sie vom Sake oder von Süssgetränken getrunken hatten, die ein mysteriöser junger Mann geliefert hatte, starben 17 Menschen an einer Zyanidvergiftung. Die ganze Familie wurde ausgelöscht, dazu einige Bekannte und Nachbarn. Nur Hisako, die wunderschöne blinde 12-jährige Tochter des Hauses, überlebte, weil sie nichts getrunken hatte.

Um diesen rund 30 Jahre zurückliegenden Fall dreht sich der aussergewöhnliche Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“, der vielfach preisgekrönten, aber zuvor noch nie ins Deutsche übersetzten japanischen Autorin Riku Onda. Sie umkreist dabei den Fall aus dem Blickwinkel verschiedener Zeitzeugen, die sich nach all den Jahren daran erinnern.

Die Polizei hat den Fall als gelöst ad acta gelegt. Ein junger Mann, der sich umgebracht hatte, erwies sich als der Getränkelieferant mit dem schwarzen Baseballcap und dem gelben Regenmantel. Er hatte psychische Probleme, nachdem seine Schwester umgebracht worden war. Sein Motiv für den Massenmord an den Aosawas konnte jedoch nicht eruiert werden. Klar war nur, dass er die Getränke zum Fest gebracht hatte. Viele vermuten, dass er das im Auftrag von jemandem getan hat. „Was wäre, wenn alle sich als Täter einfach eine spektakulär böse, gerissene, schöne Frau gewünscht hätten und nicht einen impulsiven, geisteskranken jungen Mann?“, meint eine der Personen, die im Buch auftritt.

Riku Onda erklärt in den jedes Mal die Perspektive wechselnden Kapiteln nicht, um welche Person es sich jeweils handelt. Aus dem Kontext ergibt sich das aber früher oder später. Eine Rolle spielt auch ein Buch über den Fall, das eine Studentin, die als Kind am Rande in den Fall involviert war, etwa zehn Jahre nach der Tragödie darüber geschrieben hatte. Es wurde als Fiktion verkauft, aber nicht unbedingt als solche gelesen. Was Anlass zu Betrachtungen darüber gibt, wie Tatsachen durch ihre subjektive Beschreibung zu Fiktion werden.

Im Grund zeichnet die Autorin feinfühlige Psychogramme ganz unterschiedlicher Personen und damit auch eines der japanischen Gesellschaft mit ihrer an Heuchelei grenzenden Höflichkeit und heimlichem Neid. So düster die Geschichte auch ist, die Sprache ist über weite Strecken sehr poetisch, lässt auch Beschreibungen von Blumen, Wetter und Landschaften zu. Und formuliert auf sanfte Art auch schöne Einsichten. Etwa: „Angst ist ein Gewürz, das Glaubwürdigkeit spendet. Die richtige Menge davon macht jede Geschichte plausibel.“

Wertung: 4,4 / 5

Riku Onda: Die Aosawa-Morde
(Original: Eugenia. Kadokawa Corporation, Tokio 2005)
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium Verlag, Zürich 2022. 368 Seiten, 22 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Yuji Hongo

Riku Onda

ist das Autorenpseudonym von Nanae Kumagai, geboren 1964 in Aomori, aufgewachsen in den japanischen Städten Nagoya und Toyama. Sie studierte bis 1987 an der Waseda-Universität, einer der prestigeträchtigsten privaten Hochschulen Japans in Shinjuku, einem Stadtteil von Tokio. Danach arbeitete sie zunächst als Büroangestellte für eine Lebensversicherung.

1992 erschien ihr erstes Buch, „Das sechste Kind“; der Roman wurde für das Fernsehen verfilmt. Auch einige weitere ihrer Bücher wurden für das Fernsehen oder das Kino verfilmt. Für mehrere Werke erhielt sie wichtige Auszeichnungen, etwa den Yoshikawa-Eji-Preis und den Yamamoto-Shugoro-Prize. 2017 erhielt sie den Naoki-Preis für „Honigbiene und ferner Donner“ sowie den japanischen Buchhandelspreis.

„Die Aosawa-Morde“ aus dem Jahr 2005 ist ihr erstes Buch, das als Kriminalroman bezeichnet werden kann, und der erste Titel der Autorin, der ins Deutsche übertragen wurde. Das Buch wurde 2006 von den japanischen Kriminalschriftstellern mit dem Preis für den besten Roman ausgezeichnet.

Riku Onda lebt in Sendai in der Präfektur Miyagi. Die Grossstadt liegt auf einem schmalen Landstreifen zwischen der Pazifikküste und den Bergen.


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