Radikaler Roman um Missbrauch und Erniedrigung

Die ersten Sätze
Ich bin 28 und trage eine Windel. Um mich herum sind ausschliesslich frisch entbundene Frauen mit Windeln, doch keine von ihnen würde laut sagen, dass es so ist.

Krimi der Woche ∙ N° 42/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Valentina fällt „aus allen erdenklichen Wolken“ als an einem Donnerstag kurz nach Mittag ein Polizist anruft, um ihr zu sagen, dass ihr Mann verhaftet worden sei. Er habe eine Frau vergewaltigt. Soweit so übel. Aber dann noch dies: Die Frau sieht genau gleich aus wie Valentina.

„Tote Winkel“ heisst der neue Kriminalroman der deutschen Autorin und Linguistin Sophie Sumburane. Als toter Winkel wird im Strassenverkehr der Bereich bezeichnet, den man beim Blick aus dem Auto nach hinten trotz Seitenrückspiegel nicht einsehen kann. Heute warnen sogenannte Totwinkelassistenten mit einem Signal vor Bewegungen in diesem Bereich. Bei Menschen gibt es kein Warnsystem für das, was sich in uneinsehbaren Zonen tut.

In diesem Territorium bewegt sich Sumburane mit ihrer Geschichte, die sich gängigen Krimimustern komplett entzieht. Es geht nicht um polizeiliche Ermittlungen. Und nicht um Täter und ihre Motive. Sondern um die Opfer. Und spätestens, wenn nach dreissig Seiten die Frau des Vergewaltigers zum Opfer sagt, ihr Mann habe sie nicht vergewaltigt, „er hat Sie wohl einfach mit mir verwechselt“, ahnen wir, dass das eine ganz böse Geschichte wird.

Diese wird aus der Sicht von drei Frauen erzählt. Valentina, die Frau des Täters, ist genauso Opfer wie die vergewaltigte Katja. Sie ist mit schlimmstem Missbrauch in der Familie aufgewachsen. „Liebe ist Gewalt, sie muss wehtun“, hat sie gelernt. Nun fragt sie sich, warum Katja aussieht wie sie. Der Zwilling, den ihre Mutter mit ihr zur Welt gebracht hatte, war doch angeblich bei der Geburt gestorben.

Katja, die als Kind adoptiert worden war und schon als Teenager Alkoholikerin wurde, und ihre Frau Kay wissen nicht, wie sie mit dem Verbrechen umgehen sollen. „Diese Sache ist nicht mir passiert, sondern meinem Körper“, sagt Katja. Kay, eine Transfrau aus Afrika, Linguistikprofessorin in Potsdam, stürzt sich in die Arbeit an der Uni. „Ich wollte ihr helfen, wollte nicht Falsches tun, also tat ich nichts, eine bessere Hilfe fiel mir nicht ein.“

„Tote Winkel“ ist ein radikaler Noir-Roman. Kindsmissbrauch, Erniedrigung und Vergewaltigung sind die zentralen Themen. Daneben geht es auch um Selbstverletzung, Rassismus, Zwangsadoption in der DDR, Alkoholismus, Selbstzerstörung, Suizid. Diese Fülle von mindestens schwierigem, oft schrecklichem Stoff verdichtet Sophie Sumburane auf weniger als zweihundert Seiten virtuos zu einer düsteren Geschichte, die unter die Haut geht. Und die so direkt ist, dass dem Buch eine Warnung vor „expliziten Schilderungen sexueller, körperlicher und seelischer Gewalt, auch gegen Kinder und Jugendliche“ vorangestellt ist.

Wertung: 4,2 / 5

Sophie Sumburane: Tote Winkel
Edition Nautilus, Hamburg 2022. 198 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken

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Bild: Ben Gross Porträtfotografie

Sophie Sumburane,

geboren 1987 als Sophie Hoffmann in Potsdam, war aktive Ruderin und besuchte das Elitesportgymnasium „Sportschule Potsdam Friedrich Ludwig Jahn“. Schon ab 2004 begann sie für eine Lokalzeitung zu schreiben und sie gründete eine Schülerzeitung. 2006 weilte sie im Rahmen eines Schüleraustauschs in Mosambik. An der Universität Leipzig und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studierte sie 2007 bis 2013 Germanistik und Afrikanistik. Sie promovierte an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt über forensische Linguistik.

Ihren ersten Kriminaloman „Gestörte Verhältnisse“ (fhl Verlag) veröffentlichte sie 2012, zwei Jahre später folgte „Gefährlicher Frühling“ (Pendragon). In verschiedenen Publikationen veröffentlichte sie Kurzgeschichten, zudem Reportagen und Rezensionen und andere journalistische Beiträge. „Tote Winkel“ ist nun ihr dritter Kriminalroman.

Sophie Sumburane engagiert sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Motiviert dazu wird sie insbesondere durch den Alltagsrassismus, den sie erlebt, weil sie mit einem dunkelhäutigen Mann verheiratet ist und drei dunkelhäutige Töchter hat. Sie gehört dem Netzwerk „Herland – feministischer Realismus in der Kriminalliteratur“ an. Mit ihrer Familie lebt sie in Potsdam.


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