Der Mann, der sich selbst jagen muss

Der erste Satz
Pauline Delos ist mir zum ersten Mal auf einer jener unendlich wichtigen Parties begegnet, zu denen Earl Janoth alle zwei bis drei Monate einlud – ausgewählte Mitarbeiter, persönliche Freunde, diskrete Millionäre und öffentlichkeitssüchtige Nobodys, in beliebiger Reihenfolge.

Krimi der Woche∙ N° 02/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

New York in den Vierzigerjahren. George Stroud ist Chefredakteur von „Crimeways“, einer Zeitschrift, die Kriminalfälle analysiert; True-Crime-Magazin würde man wohl heute sagen. Er ist Familienvater, aber er trinkt gerne und ist auch einem Abenteuer nie abgeneigt. „Ging es um törichtes und sogar riskantes Verhalten, war ich nie besonders zimperlich. Vielleicht war ich es auch einfach nur leid, immer das zu tun, was sich gehörte; noch mehr verabscheute ich vermutlich, bleiben zu lassen, wovon man besser die Finger liess.“ Er verbringt ein Weekend mit der schönen Pauline Delos, der Geliebten seines Chefs, des Verlegers Earl Janoth. Nachdem er sie in der Nacht zu ihrer Wohnung zurückgebracht hat, sieht Stroud, der im Dunkeln steht, seinen Chef, wie er Pauline ins Haus folgt.

Am anderen Tag ist die junge Frau tot, erschlagen mit einer schweren Karaffe. Janoth präsentiert der Polizei ein Alibi, das sein Chauffeur bestätigt: Er war bei seinem Kompagnon Steve Hagen. Doch Janoth und Hagen befürchten, dass der Mann im Dunkeln, der Janoth gesehen haben muss, zum Problem werden könnte. Und sie beauftragen ihren „Crimeways“-Mann George Stroud damit, die Suche nach dem unerwünschten Zeugen zu leiten. Dafür stehen ihm die Mittel und Mitarbeiter des Verlagshauses zur Verfügung. Auch die Polizei ist an ihm interessiert, er könnte ja der Mörder sein.

Den genialen Plot um den Mann, der sich selbst jagen muss, erzählt US-Autor Kenneth Fearing, der vor allem als Lyriker bekannt war, im Noir-Thriller „Die grosse Uhr“, der im Original 1946 erschienen ist. Es ist eine Geschichte, die, schreibt der Herausgeber Martin Compart im kundigen Nachwort, „so eng wie die Uhrfeder gewickelt ist und dessen erzählerische Zahnräder auch als existenzielle Metapher dienen“. Die Uhr aus dem Titel taucht immer wieder auf in der Geschichte. Sie steht als Symbol der grossen Maschine, die das Leben bestimmt und die Menschen gnadenlos im Griff hat: „Die Maschine kann man nicht herausfordern. Sie erschafft und löscht aus, beides mit eiskalter Sachlichkeit. Sie misst Menschen auf die gleiche Weise, wie sie Geld misst und das Wachstum der Bäume, die Lebenszeit von Moskitos, moralische Normen und den Fortgang der Zeit.“

Die Uhr-Metapher diente Fearing, der von den 1920ern bis zu seinem Tod 1961 in New York lebte, als symbolische Gesellschaftskritik in der Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Mechanismen der Konsumgesellschaft, auf die er damit zielt, haben sich seither zwar verändert, sind grundsätzlich aber noch dieselben, sie haben sich sogar eher verschärft. Obwohl Fearings Kritik also aktueller denn je ist, würde man sie heute kaum mehr so formulieren. Das ändert aber nichts an der Bedeutung dieses Romans, und insbesondere mindert es keineswegs das Leservergnügen. Denn ein solches bietet diese Trouvaille, die sich damals wie heute allen gängigen Krimischemata entzieht, von Anfang bis Ende. Während der Roman etwa in Frankreich, übertragen vom Schriftsteller Boris Vian, schon 1947 erschien, gibt es ihn auf Deutsch erst jetzt zum ersten Mal.

Die aussergewöhnliche und brillant gestrickte Story war auch fürs Kino interessant. Nach einer ersten Hollywood-Verfilmung („The Big Clock“, 1948, von John Farrow mit Ray Milland, Charles Laughton) gab es später zwei freiere Interpretationen des Plots in Frankreich („Police Phyton 357“, 1976, von Alain Corneau mit Yves Montand, Simone Signoret) und wiederum in den USA („No Way Out“, 1987, von Roger Donaldson mit Kevin Costner, Gene Hackman).

Wertung: 4,7 / 5

Kenneth Fearing: Die grosse Uhr
(Original: The Big Clock. Harcourt Brace and Company, New York 1946)
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg. Mit einem Nachwort von Martin Compart
Elsinor Verlag, Coesfeld 2023, 200 Seiten, 20 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: PD

Kenneth Fearing,

geboren 1902 in Oak Park, Illinois, gestorben 1961 in New York, ist nach der Scheidung seiner Eltern als er erst einjährig war und das Sorgerecht für ein halbes Jahr beim Vater, einem erfolgreichen Anwalt, und ein halbes Jahr bei der Mutter lag, weitgehend bei seiner Tante Eva Fearing Scholl aufgewachsen. An der Oak Park and River Forest High School war er Chefredaktor der Schülerzeitung – als Nachfolger von Ernest Hemingway. Er studierte Englisch an der University of Illinois Urbana-Champaign und an der University of Wisconsin in Madison.

Ende 1924 zog er nach New York, um Schriftsteller zu werden. Er wurde zunächst vor allem als Lyriker bekannt; 1929 erschien sein erster Gedichtband „Angel Arms“. In New York engagierte er sich in der linken Politszene und war Redakteur der kommunistischen Kulturzeitschrift „Partisan Review“. Sein Sohn sagte später, er sei nicht wirklich interessiert gewesen an der Politik der linken Organisationen, sondern habe sie benutzt, um seine Gedichte veröffentlichen zu können: „Er glaubte nicht an die Politik, er glaubte an die Poesie.“ 1950 antwortete er vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe auf die Frage, ob er Mitglied der Kommunistischen Partei sei: „Noch nicht.“

Fearing veröffentlichte neben Gedichtbänden zwischen 1939 und 1960 ein gutes halbes Dutzend Romane. „The Big Clock“ war der bekannteste und erfolgreichste. Boris Vian übertrug diesen Roman ins Französische, auf Deutsch ist er jetzt erstmals erschienen. 1948 wurde der Roman von John Farrow nach einem Drehbuch von Jonathan Latimer mit Ray Milland, Charles Laughton und Maureen O'Sullivan verfilmt. Freier übernommen wurde die Essenz des Plots später in Frankreich in „Police Python 357“ (1976) vom französischen Neo-Noir-Filmemacher Alain Corneau mit Yves Montand, François Périer und Simone Signoret, und nochmals in den USA in „No Way Out“ (1987) von Roger Donaldson mit Kevin Costner, Gene Hackman und Sean Young.

In den 1920er Jahren war Fearing liiert mit der Schriftstellerin und feministischen Aktivistin Margery Latimer (in ihrem Roman „This is My Body“ basiert eine Figur auf Fearing). 1931 lernte er die Sozialarbeiterin und Pflegefachfrau Rachel Meltzer kennen, die er 1933 heiratete. 1935 wurde ihr Sohn Bruce geboren. Wegen zunehmenden Alkoholproblemen von Fearing trennte sich das Paar 1942 und liess sich im Jahr darauf scheiden. Von 1945 bis 1952 war er mit der Künstlerin Nan Lurie verheiratet.

Mit Ausnahme einer gewissen Zeit nach seinem Erfolgsroman „The Big Clock“ mangelte es Fearing die meiste Zeit seines Lebens an Geld. Lange Zeit unterstützte ihn seine Mutter. In den 1950er Jahren lebte er in ärmlichen Verhältnissen. Auch da er immer ein starker Raucher und Trinker war, ging es ihm gesundheitlich stetig schlechter. Er war erst 58, als er am 26. Juni 1961 im Lenox Hill Hospital in Manhattan an Lungenkrebs starb.


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