Pandemie, Hitze, Anschläge – Frankreich vor der Apokalypse

Der erste Satz
Nathalie Séchard, Oberbefehlshaberin der Streitkräfte, Grossmeisterin des nationalen Ordens der Ehrenlegion, Grossmeisterin des nationalen Verdienstordens, Kofürstin von Andorra, erste und einzige Ehrenkanonikerin der Erzbasilika von San Giovanni in Laterano, Schirmherrin der Académie française und des UNESCO-Weltkulturerbes Schloss Chambord, Hüterin der Verfassung, und nebenbei Präsidentin der Fünften Republik, ist gerade in diesem Moment dabei zu vögeln.

Krimi der Woche ∙ N° 11/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Gelbwesten, Rentenreform und dann auch noch die Pandemie. Ganz Frankreich im harten Lockdown. Nur wer einen Passierschein hat, kann sich frei bewegen. Dazu fordert eine nie dagewesene Hitzewelle zusätzliche Tote. Die Menschen beginnen zu rebellieren. Die Regierung, seit den letzten Wahlen ohnehin ein fragiles Gebilde, das ein weites politisches Feld abdeckt, schlingert. Das ist grob skizziert der Rahmen, in dem sich der neue Noir-Politthriller des Franzosen Jérôme Leroy bewegt. Wie gewohnt geht er auch in „Die letzten Tage der Raubtiere“ ganz von der Realität aus, die er dann nur leicht überdreht für seine Geschichte. Die ist zwar düster, brutal und gar apokalyptisch, gleichzeitig aber auch ziemlich fröhlich. Leroy lässt damit noch ungenierter als sonst nicht nur den neuen Faschisten, sondern der ganzen politischen Klasse Frankreichs die Hosen runter und karikiert sie bis zur Kenntlichkeit.

Das Personal ist zwar fiktiv, aber erkennbar. Man muss kein Frankreichspezialist sein um die wichtigsten Gruppierungen und Personen zu erkennen. Dem Patriotischen Block von Agnès Dorgelles hat Leroy schon mal einen ganzen Roman gewidmet („Der Block“), und es ist klar, dass damit der Front Nationale von Marine Le Pen gemeint ist. Diese Partei spielt hier aber nur eine Nebenrolle, vor allem, wenn der Innenminister ihr Untaten unterschiebt, um ihr zu schaden. Das Regierungsbündnis heisst Nouvelle Société und Staatspräsidentin ist Nathalie Séchard, und die hat – eine witzige Anspielung an den Amtsinhaber – einen 26 Jahre jüngeren Mann.

Dass es in dieser Regierung, für die Séchard ganz unterschiedliche Figuren wie den alten Gaullisten früheren Fallschirmjäger Patrick Beauséant als Innenminister und den kulturaffinen Grünen Guillaume Manerville als Staatsminister für soziale und solidarische Ökologie vereinte, Intrigen ohne Ende gibt, ist nicht überraschend. Dabei lehnt sich vor allem Beauséant sehr weit aus dem Fenster: Er tut alles, um nicht nur politische Gegner, sondern auch die eigene Regierungschefin in schlechtem Licht dastehen zu lassen. Er lässt brutalste Anschläge verüben, die er dann mal dem politischen Gegner anhängt, mal diffusen Islamistengruppen, um die dafür zuständigen Ministerien schlecht dastehen zu lassen.

Beauséant will „Séchard und ihre möglichen Nachfolger destabilisieren, dem Block die Verantwortung zuschieben, um jeden Preis als einzige Alternative erscheinen“. Als möglichen Nachfolger schiebt die amtsmüde Präsidentin Manerville in Stellung. Beauséant weiss genau, dass er diesen nur über seine 20-jährige Tochter Clio, die der Witwer allein aufgezogen hat, brechen kann. Da hat er die Rechnung aber ohne den geheimnisvollen „Capitaine“ gemacht, der dem Minister und dessen Tochter nicht nur mit Ratschlägen – „Das abhörsichere Handy eines Ministers ist ungefähr so sicher wie eine gebrauchte SCUD-Rakete.» – sondern auch mit handfesten Taten zur Seite steht.

Das alles klingt schrecklich und ist es auch. Gleichzeitig bringt Leroy viel Stoff zum Schmunzeln in die wüste Szenerie. Nicht nur, dass viel gevögelt wird. Vor allem platziert Leroy überall spitze Bemerkungen, etwa wenn er die Karrieren der politischen Protagonisten resümiert. Oder wenn er eine paramilitärisch bewachte Gated Community von Superreichen in der Pampa und deren Bewohner beschreibt. Zu diesen gehören etwa: „Die Erfinderin einer Smartphone-App, mit deren Hilfe man eine Melodie identifizieren kann, ohne den Titel zu kennen – also eine der Erfindungen, die gerade das kollektive Gedächtnis der Menschheit auslöschen, um es zurück auf Goldfischniveau zu bringen. Ein belgischer Bestsellerautor, der Geschichten über telepathische Nazis erzählt, die den Vatikan von der erdabgewandten Seite des Mondes aus angreifen – er hatte in seinem Land ein paar Scherereien wegen seiner ayurvedischen Sekte, die vor allem damit beschäftigt war, im einem wallonischen Schloss mystische Orgien zu organisieren, deren Teilnehmer nicht alle freiwillig dabei waren.»

Die „Grande Nation“ steht vor dem Abgrund. Jérôme Leroy macht daraus einen ebenso intelligenten wie fesselnden und unterhaltsamen Polit- und Gesellschaftskrimi.

Wertung: 4,6 / 5

Jérôme Leroy: Die letzten Tage der Raubtiere
(Original: Les dernier jours des fauves. La Manufacture de Livres, Paris 2021)
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, Hamburg 2023. 396 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: Pascal Ito

Jérôme Leroy,

geboren 1964 in Rouen in der Normandie, war während rund zwanzig Jahren Französischlehrer an verschiedenen Schulen im Norden Frankreichs, vor allem in Roubaix. Seinen ersten Roman „L’Orange de Malte“ (1990) schrieb er während seiner Zeit im Militär.

Inzwischen publizierte er mehr als 15 Romane, mehrere Gedichtbände und eine ganze Reihe von Jugendbüchern. Zum sogenannten Néo-Polar, dem Krimi als gesellschaftskritischem Roman, kam er durch einen Freund, den Schriftsteller Frédéric H. Fajardie, einen der Pioniere der modernen französischen Kriminalliteratur. Für Leroy ist die Kriminalliteratur inzwischen „eine zeitgemässe Form der Geschichtsschreibung“.

In seinem Politthriller „Le Bloc“ (2011, Deutsch: „Der Block“, 2017) geht es um die Machtergreifung einer rechtsextremen Partei in Frankreich, der als Schlüsselroman über den Front National gilt. Auf diesem Roman basiert der Spielfilm „Chez nous“ (2017) des belgischen Regisseurs Lucas Belvaux; Leroy wirkte auch am Drehbuch mit. Auf Deutsch erschienen sind auch seine Roman „Die Verdunkelten“ (2018) und „Der Schutzengel“ (2020), sowie „Terminus Leipzig“ https://www.krimikritik.com/reviews/14/jeromeleroymaxannas (2022), ein Gemeinschaftswerk mit dem deutschen Autor Max Annas.

Jérôme Leroy lebt in Lille, der Grossstadt ganz im Norden Frankreichs an der Grenze zu Belgien.


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