Willkommen im Paradies, wo Unbefugte erschossen werden

Der erste Satz
Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verliess die Erde.

Krimi der Woche ∙ N° 23/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Familie Chamberlain ist im Jahr 1978 aus London nach Neuseeland gekommen, wo der Vater einen neuen Job hat. Vor dem Stellenantritt wollen sie etwas vom Land sehen. Im Mietwagen bereisen sie – Vater, Mutter, die drei Kinder Maurice (14), Katherine (12) und Tommy (7) sowie ein Baby – die Südinsel. In einem abgelegenen Gebiet kommt der Vater während eines Unwetters von der Strasse ab, das Auto stürzt in eine Schlucht. Die Eltern und das Baby überleben den Unfall nicht. Maurice hat sich ein Bein gebrochen, Katherine ein paar Rippen gequetscht oder gebrochen, Tommy hat ein schweres Schädeltrauma erlitten. Tagelang harren die drei Kinder in der unwirtlichen Gegend aus und warten auf ihre Rettung. Schliesslich taucht ein Mann, Peters, auf und nimmt sie mit auf die abgelegene Farm, die er mit Martha betreibt, die gesundheitlich schwer angeschlagen ist.

So beginnt der aussergewöhnliche Neuseeland-Noir-Roman „Kerbholz“ von Carl Nixon. Das Verschwinden der Familie wird erst bemerkt, als der Vater am ersten Arbeitstag nicht in seiner neuen Firma auftaucht. Die Polizei startet eine Suchaktion. Ohne Erfolg. Suzanne, die Schwester der Mutter, reist aus England nach Neuseeland, um nach ihren Verwandten zu suchen. Sie wird in den folgenden Jahren mehrmals wieder kommen.

„Unbefugte werden erschossen“, steht auf einem Schild am Eingang des Tals, in das Peters die Kinder gebracht hat. „Willkommen im Paradies“, sagt er da. „Katherine konnte nicht sagen, ob es ein Scherz sein sollte. Vielleicht war Paradies der Name des Tals.“

Die Stadt sei zu weit weg, um Hilfe zu holen, erfahren die Kinder. Martha, die sich in Naturheilkunde auskennt, kümmert sich um sie. Und dann müssen sie arbeiten. Katherine geht Martha in Haus und Garten zur Hand, melkt die beiden Kühe. Maurice muss Peters helfen, vor allem bei seiner Marihuana-Plantage. Auf ihre Nachfragen, wann sie denn endlich in die Stadt könnten, reagieren Peters und Martha mit allerlei Ausflüchten. Schliesslich präsentieren sie ihren Gästen, die längst zu Arbeitssklaven geworden sind, ein Kerbholz, das dem Roman den Titel gibt. Die Kerben im Holz würden ihre Schulden für Kost, Logis und Krankenpflege zeigen. Diese müssten sie abarbeiten. Wie viel Zeit oder Geld eine Kerbe bedeutet, sagen sie jedoch nicht.

Maurice bleibt rebellisch und versucht abzuhauen. Mit seinen Hunden findet ihn Peters jedes Mal rasch wieder. Und bestraft in hart. Derweil arrangiert sich Katherine zunehmend mit Martha, die mütterliche Gefühle entwickelt, und schickt sich in die Situation. So ziehen Jahre ins Land. 32 Jahre nach dem Verschwinden erhält Suzanne die Nachricht, dass die Knochen von Maurice gefunden wurden. Es stellt sich heraus, dass er nach dem Verschwinden noch mindestens vier Jahre gelebt hat.

Carl Nixon erzählt die Geschichte nicht streng chronologisch. Mit Zeitsprüngen vor und zurück hält er das Spannungslevel stets hoch. Geschickt spielt er zudem mit Emotionen. Dabei geht es unter anderem um Familienverhältnisse und das Zusammenleben. Bei aller Düsternis gibt auch zärtliche Momente. Und es ist vor allem die zuweilen poetische Prosa Nixons, die fesselt. Das beginnt schon beim Unfall im ersten Abschnitt: „Es schien kein Mond in dieser Nacht, niedrige, bleierne Wolken verdeckten den Himmel. Für den Bruchteil –eines Bruchteils – eines Augenblicks hing das Auto wie schwebend in der Luft. Sehr bald würden die Kinder anfangen zu fallen. Hinab auf die Wipfel der Bäume. Hinab auf das zwischen Felsbrocken entlangrauschende Wasser. Der Zukunft entgegen.“

Wertung: 4,2 / 5

Carl Nixon: Kerbholz
(Original: The Tally Stick. RHNZ Vintage, Auckland 2020)
Aus dem Englischen von Jan Karsten
CulturBooks, Hamburg 2023. 304 Seiten, 24 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Stephanie Nixon/Random House New Zealand

Carl Nixon,

geboren 1967 in Christchurch, Neuseeland, hat einen Master of Arts in Religionswissenschaften von der Universität Canterbury in Christchurch und ein Lehrdiplom. Während des Studiums war er Gründungsmitglied einer Improvisationstruppe am Court Theatre in Christchurch.

Für seine Kurzgeschichten wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, und er gewann 2007 den wichtigen Katherine Mansfield Contest. Er hat sieben hoch gelobte Theaterstücke veröffentlicht, eine Kurzgeschichtensammlung und vier Romane: „Rocking Horse Road“ (2007) und „Settlers Creek“ (2010) sind unter diesen Titeln auch auf Deutsch erschienen, „The Virgin and the Whale“ (2013) hiess auf Deutsch „Lucky Newman“. Die aktuelle Übersetzung „Kerbholz“ erschien im Original 2020 unter dem Titel „The Tally Stick“. Geschrieben hat er diesen Roman weitgehend, während er als Katherine Mansfield Menton Fellow in Frankreich weilte. Im August 2023 erscheint Nixons fünfter Roman „The Waters“.

Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern nach wie vor in seiner Heimatstadt Christchurch.


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