Brutaler Rassismus im Boston der Siebzigerjahre

Der erste Satz
Irgendwann vor Tagesanbruch fällt der Strom aus, und ganz Commonwealth erwacht von der Hitze.

Krimi der Woche ∙ N° 34/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es ist ein heisser Sommer in Boston. Nicht nur meteorologisch. Mit dem Beginn des neuen Schuljahres im September 1974 soll die Rassentrennung an den öffentlichen Highschools aufgehoben werden. Dazu sollen schwarze Schüler aus ihren Vierteln mit Busen zu Schulen in von Weissen bewohnten Vierteln gefahren werden und umgekehrt. Vor allem in den von den Nachkommen irischer Einwanderer bewohnten Gegenden laufen unverhohlen rassistische Protestaktionen.

Diese historischen Ereignisse bilden den Hintergrund des ersten Romans von Dennis Lehane seit rund sieben Jahren. Er macht schon seit einiger Zeit vorwiegend Filme und TV-Serien, und er sagt, „Sekunden der Gnade“ sei vielleicht sein letzter Roman. Es habe sich „wie ein Ende“ angefühlt, als er ihn geschrieben habe, sagte er in einem Interview: „In meinem ersten Roman ging es um Rassismus und mit meinem vierzehnten Roman geht es um dasselbe Thema auf eine ganz andere Art und Weise.“

Hauptfigur ist Mary Pat Fennessy, eine 42-jährige Mutter aus einem irischen Viertel. Ihr erster Mann ist früh gestorben, der zweite hat sie verlassen. Ihr Sohn ist nach seiner Rückkehr aus dem Vietnamkrieg an einer Überdosis Heroin gestorben. Jetzt hat sie noch ihre Tochter, Jules, 17. Und das Viertel: „Wir haben vielleicht nicht viel, aber wir haben das Viertel. Wir haben einen Kodex. Wir geben aufeinander acht.“ Das Sagen im Viertel hat der Mobster Marty Butler. Wer, wie Mary Pat, loyal zu ihm steht, geniesst Schutz.

Eines Nachts kehrt Jules nicht nach Hause zurück. Vergeblich sucht Mary Pat nach ihr. Die Freunde, mit denen die Tochter unterwegs war, versuchen die verzweifelte Mutter mit Ausflüchten abzuspeisen. Zur Polizei geht sie nicht, das tut man hier nicht. Sie bittet Leute von Butler, die sie gut kennt, um Hilfe. Als auch die sie mit Ausflüchten abspeisen, wächst die Gewissheit, dass ihre Tochter nicht mehr lebt.

In der Nacht, in der Jules verschwand, ist in einer U-Bahnstation ein junger Schwarzer getötet worden, der das Pech hatte, dass sein Auto im falschen Viertel liegengeblieben war. Hatte Jules etwas damit zu tun? Und was ist mir ihr geschehen? Mary Pat hat nun nichts mehr zu verlieren. Sie legt sich mit allen an, auch mit den mächtigen Mobstern. Mit ihren vermeintlichen Freundinnen im Viertel. Schliesslich zieht sie als einsame Rächerin durch South Boston.

Dennis Lehane erliegt nicht der Versuchung, aus Mary Pat eine Heilige oder doch mindestens „eine Gute“ zu machen. Sie ist selbst eine Rassistin, sie kennt nichts anderes, und sie muss sich irgendwann eingestehen, dass ihrer Erziehung auch ihre Tochter dazu gemacht hat. In der durch die bevorstehende Schulbusaktion aufgeheizten Situation zeigt sich der ganze Rassismus besonders drastisch. Affenbilder an den Iren-Demos gehören noch zu den harmloseren Auswüchsen. Den auf dem Boden liegenden jungen Schwarzen in der U-Bahnstation zu treten, war für einen aus Jules’ Clique „ein so schönes Gefühl, wie er es vielleicht seit seinem neunten Geburtstag nicht mehr erlebt hatte, als er das Dreigangrad geschenkt bekam, das er schon sieben hatte haben wollen“.

Der Autor ist selbst in einem irischen Viertel in Boston aufgewachsen, und 1974 hat er als Neunjähriger die Stimmung und den Hass aus der Nähe miterlebt. Für die harten Schilderungen der rassistischen Manifestationen konnte er auf seine Erinnerungen zurückgreifen, wie er in einem Interview sagte. Dabei kommen auch reale Personen aus jener Zeit vor, als bekanntester davon etwa Ted Kennedy mit einem besonders unrühmlichen Auftritt bei einer Demonstration der „Iren“.

Auf seine gewohnt gekonnte Art erzählt Lehane die Geschichte, die nicht nur von Rassismus handelt. Sie zeigt auch, dass die armen irischstämmigen Bevölkerungsschichten in den Sozialsiedlungen und die Schwarzen in ihren Vierteln im Grunde die gleichen Probleme haben. Sie werden von den Mächtigen und Reichen gegeneinander aufgehetzt, was diesen hilft, sie klein zu halten und von ihnen zu profitieren. Bis solche Einsichten vielleicht ansatzhaft in Mary Pats Gehirnwindungen eindringen können, ist für sie aber alles längst zu spät.

Wertung: 4,2 / 5

Dennis Lehane: Sekunden der Gnade
(Original: Small Mercies. HarperCollins, New York 2023)
Aus dem Englischen von Malte Krutzsch
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 399 Seiten, 26 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: Gaby Gerster/Diogenes Verlag

Dennis Lehane,

geboren 1965 in Dorchester, einem Stadtteil von Boston, Massachusetts, besuchte die Boston College High School und das Eckerd College in St. Petersburg, Florida. Er arbeitete unter anderem als therapeutischer Berater für geistig behinderte und sexuell missbrauchte Kinder, als Kellner, Limousinenchauffeur, Parkplatzwächter, in Buchläden und als Erntehelfer. Da er Schriftsteller werden wollte, studierte er Creative Writing an der Florida International University.

1990 schrieb er seinen ersten Roman „A Drink Before War» («Ein letzter Drink»), der 1994 erschien. Es war der Auftakt einer Reihe mit dem Detektiv-Duo Angela Gennaro und Patrick Kenzie, in der bis 2010 sechs Titel erschienen.

Mehrere seiner bisher mehr als ein Dutzend Romane sind Bestseller und wurden von berühmten Regisseuren erfolgreich verfilmt: „Mystic River“ (Regie: Clint Eastwood»), „Gone Baby Gone“ (Regie: Ben Affleck), „Shutter Island“ (Regie: Martin Scorsese) und „Live By Night“ (Regie: Ben Affleck). Er schrieb auch Drehbücher, so für den Film „The Drop“ (Regie: Michaël R. Roskan) und für ein paar Folgen der TV-Serie „The Wire“ und andere Serien. 2022 entwickelte und schrieb er die sechsteilige Miniserie „Black Bird“.

Dennis Lehane lebt mit seiner Frau in Los Angeles und in Boston. Er hat zwei Kinder aus einer früheren Ehe.

 


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