Der Gebrauchtwagenverkäufer wird zum Rächer

Der erste Satz
Richard Hudson drückte noch einmal auf den Zähler in seiner Hand, bevor er einen Blick darauf warf.

Krimi der Woche ∙ N° 35/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es ist erstaunlich: Vom bedeutenden und allenthalben – völlig zu Recht – hoch gelobten US-Autor Charles Willeford (1919–1988) sind bis heute gut ein halbes Dutzend Romane nicht auf Deutsch erschienen. Berühmt geworden ist er vor allem durch seine brillante vierteilige Serie über den Mordermittler Hoke Moseley (Deutsch im Alexander Verlag). Der Verlag Pulp Master, der uns schon 2005 mit zwei Willeford-Titeln erfreute, bringt uns nun ein weiteres Werk des Kultautors:  „The Woman Chaser“ aus dem Jahr 1960 unter dem deutschen Titel „Filmriss“. Der deutsche Titel ist hier übrigens für einmal treffender als der Originaltitel, denn Frauen werden in dieser Story nicht wirklich gejagt. Aber schlecht behandelt.

Ein Kriminalroman ist das nicht wirklich, aber das aussergewöhnliche Werk gehört in die Kategorien Noir und Pulp. Im Grunde ist es, wie die meisten Werke Willefords, eine Auseinandersetzung mit dem American Way of Life.

Richard Hudson, der Icherzähler, ist ein erfolgreicher Gebrauchtwagenverkäufer. Er durchschaut die Kundschaft und weiss darum, wie er ihnen die alten Karren andrehen kann. Nun hat ihn sein Chef, der unter dem Namen Honest Hal in der Region San Francisco eine Gebrauchtwagenkette betreibt, nach Los Angeles geschickt, um hier eine Filiale zu eröffnen. „Sollte ich einen richtig dicken Schnitt machen, könnt ich Honest Hal die Kehle durchschneiden und mir den ganzen Laden selbst unter den Nagel reissen. Das ist doch der American Way of Life, oder?“

Doch das Autoverkaufen befriedigt Hudson dann nicht mehr wirklich. In Los Angeles will er Filmemacher werden. Dafür greift er in die Kasse von Honest Hal und drängt seinen Stiefvater, einen gescheiterten Filmproduzenten, sein Lieblingsgemälde zu verkaufen. Anhand einer dramatischen kleinen Geschichte will er in seinem Film zeigen, in welch ödem Familien- und Arbeitsleben durchschnittliche Menschen in Amerika dahinvegetieren, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Sie sind wie in einer Maschine eingespannt in eine Welt von Arbeit und Konsum. Und einige wenige profitieren davon und machen so ihren amerikanischen Traum wahr. Konkret geht es in seinem Film um einen Trucker, der ein Mädchen überfährt und dann durchs Land verfolgt wird. Nachdem der Film fertig ist, überwirft sich Hudson mit seinen Produzenten. Wütend darüber, dass sein grossartiges Werk nicht richtig gewürdigt wird, machte er sich auf, um sich an denen, von denen er sich hintergangen fühlt, zu rächen.

Hudson ist ein Psychopath, der an die Figuren von Jim Thompson erinnert. Er schwadroniert über das Leben und die Gesellschaft, über das kreative Werk, das er schaffen will. Für diese Kunst sind ihm fast alle Mittel recht. Die Geschichte ist ziemlich bizarr, sicher nicht die beste von Willeford, aber allemal faszinierend und lesenswert. Die Struktur des Romans wird insofern filmisch geprägt, als die Szenenwechsel mit Zwischentiteln wie „Schnitt“ und „Überblendung“ überschrieben werden. Die Sprache – die Übertragung ins Deutsche besorgte Sepp Leeb – ist nicht der heutigen Zeit angepasst, was sich etwa an einzelnen Bezeichnungen für Frauen zeigt, und auch das N-Wort kommt schon mal vor. Es ist, wie man einer Anmerkung im Impressum entnehmen kann, der Wunsch der Rechtsinhaberin, dass die Sprache der Fünfziger- und Sechzigerjahre „historisch getreu“ wiedergegeben wird.

Wertung: 4 / 5

Charles Willeford: Filmriss
(Original: The Woman Chaser. Newsstand Library Books, Chicago 1960)
Aus dem Englischen von Sepp Leeb
Pulp Master, Berlin 2023. 224 Seiten, 15 Euro/ca. 22 Franken

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Bild: Alexander Verlag

Charles Willeford,

geboren 1919 in Little Rock, Arkansas, gestorben 1988 in Miami, Florida, wurde mit acht Jahren zum Vollwaisen und wuchs danach bei seiner Grossmutter in Los Angeles auf. In seinen frühen Teenagerjahren wurde er zum Landstreicher. Mit 16 ging er – unter falscher Altersangabe – zum Army Air Camp und wurde auf den Philippinen stationiert. Während des Zweiten Weltkriegs war er Panzerkommandant bei 10th Armored Division in Europa. Er wurde mit mehreren Auszeichnungen geehrt, bevor 1956 die Armee verliess. Er versuchte sich als Profiboxer, Schauspieler, Pferdetrainer und Radiosprecher, studierte Malerei in Frankreich und Peru, wandte sich dann der Schriftstellerei zu und studierte von 1961 bis 1964 Englische Literatur.

1953 veröffentlich er seinen ersten von insgesamt 18 Romanen. Für „Cockfighter“ (1962; „Hahnenkämpfer“, Alexander Verlag), der 1974 von Monte Hellman verfilmt wurde, erhielt er den Mark Twain Award. Zu seinen grössten Erfolgen zählen die vier starken Romane über den glücklosen Mordkommissar Hoke Moseley in Florida, die alle auch auf Deutsch erschienen sind (Alexander Verlag). Nach wie vor sind mehrere seiner Romane nicht ins Deutsche übersetzt. Bei Pulp Master, wo jetzt „The Woman Chaser“ als „Filmriss“ erschienen ist, sind zwei weitere Willeford-Romane erschienen: „Ketzerei in Orange“ (2005; „The Burnt Orange Hersey“, 1971) und „Schwarze Messe“ (2005; „Honey Gal“, 1958). „The Woman Chaser“ wurde 1999 verfilmt, „The Burnt Orange Hersey“ 2019. Bereits 1990 wurde der Hoke-Mosley-Krimi „Miami Blues” verfilmt.

Willeford war auch als Literaturkritiker tätig, schrieb Theaterstücke und war ausserordentlicher Professor für Philosophie und Englisch am Miami Dade Junior College. Er war dreimal verheiratet. Am 27. März 1988 starb er im Alter von 69 Jahren an einem Herzinfarkt.

 


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