Sie flüchtet vor Gangstern – und vor sich selbst

Der erste Satz
Sinclair hatte sie gefragt, wie das Geräusch geklungen hatte, aber sie hatte nicht darauf geantwortet.

Krimi der Woche ∙ N° 03/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Alice trinkt. Regelmässig. Jeden Tag. Und immer zu viel. Sie trinkt um zu vergessen. Sie versucht die Schuld zu verdrängen, die auf ihr lastet. Vor sechs Jahren, sie war damals fünfzehn, ist ihr vierjähriger Bruder ums Leben gekommen, als sie auf ihn aufpassen sollte. Kurz darauf ist Alice von zu Hause weggegangen. Sie lebt auf der Strasse und in billigen Absteigen, sie arbeitet illegal. Zurzeit an der Bar in einem schmuddeligen Striptease-Schuppen.

„Es war nie gut, wenn sie sich an die Marke des Schnapses erinnerte, aber nicht an den Namen des Mannes, mit dem sie geschlafen hatte“, denkt sie, als sie in einem Zimmer, das sie nicht kennt, neben einem Mann aufwacht. Sie erinnert sich nicht, wie sie dahin gekommen ist. Als sie sich den Typen im Bett näher anschaut, stellt sie entsetzt fest, dass es er widerlicher Chef ist. Und dass er tot ist.

Alice ist die Hauptfigur in „Die Schuld“, dem ersten Buch des US-Autors Samuel W. Gailey, das auf Deutsch vorliegt. Sie scheint Schwierigkeiten geradezu anzuziehen. „Die Probleme folgten ihr wie Hundewelpen der Hundemutter“, heisst es einmal. „Und wenn ausnahmsweise mal die Probleme nicht zu ihr fanden, stolperte garantiert Alice darüber.“

Und tatsächlich wird alles sogleich noch schlimmer. Viel Schlimmer. Im Trailer des Nachtclub-Chefs findet Alice eine Tasche mit Drogen und Bündeln von Bargeld. Die Drogen interessieren sie nicht, Alkohol reicht ihr. Bevor sie mit der Tasche voll Geld verschwindet, alarmiert sie anonym die Polizei. Doch als sie abhauen will, tauchen zwei Typen auf, die offenbar Drogengeschäfte mit ihrem Chef machen. Und kaum haben diese festgestellt, dass ihr Geschäftspartner tot ist, taucht eine Polizeistreife auf. Es kommt zu einer wüsten Schiesserei, die nur Alice überlebt.

Von jetzt an ist Alice auf der Flucht. Verfolgt von einem kleinwüchsigen Drogenboss, der gerne den Intellektuellen raushängen lässt, und dessen Mann fürs Grobe. Gailey macht daraus eine erschütternde Noir-Geschichte mit einer bewegenden Protagonistin, die ihre Schuldgefühle mit Saufen betäubt, aber wenn sie ausnahmsweise mal nicht trinkt, auch über einen Weg aus ihrer Verzweiflung nachzudenken beginnt. Denn dass das Trinken keine Lösung ist, hat sie schon lange gemerkt. „Der Alkohol erledigte zu gegebener Zeit, was er erledigen sollte – sie betäuben –, aber morgens war die Reue wieder da. Und zwar mächtig. Dann spielte sich der Unfall immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab, so klar, als wäre er erst gestern passiert.“

Dabei stellt sich auch die Frage, ob denn Alice wirklich schuld ist am Tod ihres kleinen Bruders. Und ob sie sich von der Schuld, in der sie sich sieht, wirklich das Leben kaputtmachen lassen soll. Die Begegnung mit einem ausgerissenen Mädchen, das vom Freund ihrer Mutter missbraucht wurde und in getötet hat, trägt dazu bei, dass sich Alice nüchtern gewissen Fragen zu stellen beginnt, statt sich weiter zu betäuben. Und sie scheint zu erkennen, dass sie genauso wie vor den Gangstern vor sich selbst davonläuft. Ein starkes Stück.

Wertung: 4,4 / 5

Samuel W. Gailey: Die Schuld
(Original: The Guilt We Carry. Oceanview Publishing, Sarasota 2019)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag, Stuttgart 2024. 308 Seiten, 26 Euro/ca. 38 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Amanda Demme

Samuel W. Gailey,

der seinen Jahrgang nicht nennt, ist in Wyalusing, einem Kaff mit damals 379 Einwohnern im Nordosten des US-Bundesstaates Pennsylvania aufgewachsen. Er studierte 1985 bis 1989 Englisch an der University of North Carolina in Charlotte, wo er auch Drehbuchschreibkurse besuchte.

Er ging dann nach Los Angeles, um beim Film zu arbeiten. Er begann als Produktionsassistent, arbeitete sich zum Produktionsleiter und Line Producer hoch, doch seine Liebe galt dem Schreiben. Er lernte die Autorin Ayn Carillo kennen, die das Drehbuchprogramm der UCLA absolvierte. Sie fingen an, gemeinsam Drehbücher zu schreiben und für das Fernsehen zu arbeiten, insbesondere für Showtime, 20th Century Fox und PBS. Die beiden wurden ein Paar.

2014 veröffentlichte Samuel W. Gailey seinen ersten Roman „Deep Winter“. 2019 folgte „The Guilt We Carry“, der jetzt unter dem Titel „Die Schuld“ auf Deutsch vorliegt. 2023 publizierte er den dritten Roman „Come Away From Her“. Seine Bücher erscheinen in Frankreich beim renommierte Verlag Gallmeister.

Nach fünfundzwanzig Jahren in Los Angeles lebt er mit seiner Frau Ayn Carillo-Gailey und der gemeinsamen Tochter Gray in Eastsound auf Orcas Island im San Juan County im US-Bundesstaat Washington.


Zurück
Zurück

Noir pur

Weiter
Weiter

Im Regenwald lauert der Tod