Noir pur

Der erste Satz
Ich war elf, als mein Vater sein Schlafzimmer betrat und mich dabei erwischte, wie ich einige Münzen einsteckte, die er gesammelt hatte und in er Socke verwahrte.

Krimi der Woche ∙ N° 04/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Jacob «Jake» Bishop war ein Einbrecher. Er war offenbar talentiert. Trotzdem landete er zweimal im Knast. Inzwischen ist er schon ein paar Jahre draussen. Im Gefängnis hat er Haareschneiden gelernt, danach hat er auch ein bisschen studiert. Dabei hat er Paris kennengelernt, mit der er inzwischen verheiratet ist und die schwanger ist. Er arbeitet als Hairstylist in einem angesagten Salon in South Bend, Indiana. Und ist daran, die Eröffnung eines eigenen Salons vorzubereiten.

Jake führt ein gutes Leben, und er will das nicht gefährden. Doch dann meldet sich sein Zellenkumpel Walker aus dem Pendleton Penitentiary, der inzwischen auch draussen ist. Jake soll ihm bei einem todsicheren Einbruch helfen. Der will nicht. Doch Walker hat ihm im Knast das Leben gerettet und fordert jetzt dafür eine Gegenleistung ein. Zudem weiss er zu viel, was Jake unter dem Deckel halten will. Es kommt, wie es kommen muss. Jake muss sich auf den Einbruch mit Walker einlassen.

Dass das, noch dazu in einem Noir-Thriller, nicht gut kommen kann, ist absehbar. Der unlängst verstorbene US-Autor Les Edgerton macht daraus in „Primat des Überlebens“ eine bitterböse Geschichte, die trotz der voraussehbaren Entwicklung packend bleibt. Natürlich läuft der Bruch nicht so problemlos, wie es geplant war. Und es kommen immer neue Komplikationen dazu, vor allem auch zwischen den beiden Einbrechern.

Die düstere Geschichte wird immer noch schwärzer. Immer mehr Leichen bleiben zurück, obwohl sich Jake gar nicht als Mörder versteht, ganz im Gegenteil. Aber er tut eben, was er zum Überleben tun zu müssen glaubt. Obwohl er zeitweise nicht einmal mehr das will, wenn das Unternehmen, dem er sein bürgerliches Leben opfert, immer mehr aus dem Ruder läuft. „Am liebsten wäre ich ausgestiegen, hätte mich quer auf die Fahrbahn gelegt, um mich von einem Sattelschlepper überrollen zu lassen, um dem ganzen Schwachsinn ein Ende zu setzen.“

Les Edgerton erweist sich als guter Erzähler, der sich nicht mit Klischees aus Verbrecherleben und Knast durchmogeln muss. Weil er weiss, wovon er schreibt. Er hat selbst eine Vergangenheit als Einbrecher, Räuber und Hehler und sass in der Strafanstalt in Pendleton. Die Geschichte bleibt von Anfang bis Ende knallhart und kompromisslos. Sie macht einem bewusst, dass heute bei Noir-Romanen zwar nicht gerade Happyend serviert wird – dann wäre es ja kein Noir mehr –, dass aber die Geschichten allzu oft mit einem kleinen Lichtblick oder Hoffnungsschimmer endet. Das gibt es bei Edgerton nicht. Gnadenlos treibt Edgerton seinen Protagonisten durch die Hölle – auch die in seinem Kopf. Da bleibt auch ganz zum Schluss keine Hoffnung. Das ist Noir pur. Purer geht es kaum.

Wertung: 4,3 / 5

Les Edgerton: Primat des Überlebens
(Original: The Bitch. New Pulp Press, Key West FL 2014)
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller von
Pulp Master, Berlin 2024. 342 Seiten, 16 Euro/ca. 23 Franken

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Bild: Pulp Master

Les Edgerton,

geboren 1943 in Odessa, Texas, gestorben 2023 in Fort Wayne, Indiana, war vier Jahre bei der US Navy. Wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei sass er in den 1960er Jahren zwei Jahre in der Strafanstalt von Pendleton, Indiana. „Jetzt bin ich sauber, und Sie können mich zu sich nach Hause einladen, ohne dass Sie das Silberbesteck zählen müssen, wenn ich gehe“, schrieb er selbstironisch in seinem Blog.

Nach dem Gefängnisaufenthalt studierte er an der Indiana University, wo er mit einem BA in General Studies (Honors of Distinction) abschloss, bevor das Vermont College mit einem MFA in Writing abschloss. Er hat rund zwanzig Bücher veröffentlicht, lehrte kreatives Schreiben an der Universität und gab Privatunterricht für Schriftsteller. Er schrieb auch Drehbücher und Kurzgeschichten. Auf Deutsch ist bei Pulp Master vor „Primat des Überlebens“ bereits „Der Vergewaltiger“ (2016) erschienen, und „Das grenzgeniale Pseudo-Kidnapping“ ist in Vorbereitung.

Mit seiner Frau Mary lebte Edgerton – der aus einer früheren Ehe zwei Töchter hat – in Fort Wayne im US-Bundesstaat Indiana. Er starb im August 2023 an einer Covid-19-Erkrankung. Kurz zuvor war sein und Marys Sohn Mike mit 33 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben.


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