Wer erschoss Jane Fonda?

Der erste Satz
In Amerika sind die Zeiten lange vorbei, in denen man über eine Frau von 68 Jahren sagen konnte, sie sei „immer noch“ schön – diese fiese kleine Einschränkung, die ironisch auf das Wunder hinweist, dass jemand in diesem hohen Alter attraktiv sein kann.

Krimi der Woche ∙ N° 01/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Auf der Terrasse eines Cafés in East Hampton, einem Nobelvorort von New York City, wird an einem sonnigen Herbstnachmittag Jane Fonda erschossen. Ein perfekter Schuss aus weiter Entfernung. Es kann nur ein hervorragender Scharfschütze gewesen sein.

Es ist nicht wirklich Jane Fonda, die auf den ersten Seiten des Thrillers „Im Visier des Snipers“ getötet wird. Die Frau wird Joan Flanders genannt, doch nicht nur die Initialen, sondern auch die Angaben zu ihrer Biografie – Schauspielerfamilie, radikale Vietnamkriegs-Gegnerin, später Erfolg mit Fitnessvideos usw. – passen exakt auf den legendären Filmstar. Elf Jahre nach dem Original „I, Sniper“ liegt der brillante Roman von Stephen Hunter jetzt endlich auf Deutsch vor.

Hunter war lange Jahre Filmkritiker, zuletzt bei der „Washington Post“, und wurde für seine Kritiken mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Der knapp 75-Jährige ist auch hervorragender Romanautor, wobei er, selber Sportschütze, sich bevorzugt mit Passion und Fachkunde mit Scharfschützen und ihrem Handwerk auseinandersetzt. „Im Visier des Snipers“ ist der sechste Titel seiner im Original bereits elf Bände umfassenden Reihe mit dem Scharfschützen Bob Lee Swagger. Und es ist einer der besten.

Nach Jane Fonda, pardon: Joan Flanders, werden in kurzer Zeit drei weitere prominente Exponenten der Antikriegsbewegung der 1960er Jahre getötet. Ebenfalls von einem Scharfschützen. Das FBI kommt bald auf die Spur eines legendären Snipers, der schliesslich tot aufgefunden wird. Alle Indizien und Beweise passen perfekt. Vielleicht fast etwas zu perfekt, findet der leitenden Ermittler des FBI. Und er zieht seinen alten Freund Bob Lee Swagger bei, der selbst Scharfschütze in Vietnam war. Der sieht, dass diese Schüsse ohne modernste Waffentechnologie nicht möglich gewesen wären. Über die verfügte der angebliche Schütze alter Schule jedoch nicht. Während das FBI politisch unter Druck steht, den Fall schnell abzuschliessen, kommt Swagger einem raffinierten Komplott auf die Spur.

Hunter hat daraus einen grossen Roman gemacht, fast 600 Seiten stark, hart und spannend von Anfang bis Ende, gespickt mit vielen Analogien zu tatsächlichen Personen und Ereignissen. Nebenbei handelt er auch von einem Wandel bei den Ermittlern, wo nur noch harte Fakten Anlass für ein Vorgehen sind und das Bauchgefühl alter Haudegen nichts mehr zählt. Das alles ist mit Schwung erzählt, mit schlagfertigen Dialogen und trockenem Humor. Dabei brilliert Hunter nicht nur mit seinem technischen Wissen über das Scharfschützenhandwerk, sondern auch mit dem psychologischen.

Wertung: 4,8 / 5

Stephen Hunter: Im Visier des Snipers
(Original: I, Sniper, Simon & Schuster, New York 2009)
Aus dem Englischen von Patrick Baumann
Festa, Leipzig 2020. 585 Seiten, 14,99 Euro/ca. 20 Franken

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Bild: Kelly Campbell/Simon & Schuster

Stephen Hunter,

geboren 1946 in Kansas City, Missouri, hat Journalismus studiert und war dann drei Jahre in der US-Army. 1971 begann er als Redaktor bei der Tageszeitung „The Baltimore Sun“, wo er 1982 Filmkritiker wurde. 1997 bis 2008 war er Filmkritiker bei der „Washington Post“; 2003 wurde er für seine Kritiken mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Sein erster Roman, „The Master Sniper“, erschien schon 1980; seither veröffentlichte er rund zwei Dutzend Bücher, darunter auch Sachbücher mit Texten zu Filmen. Die Thriller-Reihe mit dem Scharfschützen Bob Lee Swagger umfasst inzwischen elf Bände, „I, Sniper“ (2009; Deutsch: „Im Visier des Snipers“) ist der sechste Band. Zudem gibt es eine Spin-off-Serie um Bob Lees Vater Earl Swagger mit vier Bänden. Der erste Bob-Lee-Swagger-Roman, „Point of Impact“ (1993; Deutsch: „Im Fadenkreuz der Angst“, 1994) wurde 2007 von Regisseur Antoine Fuqua unter dem Titel „Shooter“ mit Mark Wahlberg als Bob Lee Swagger verfilmt. Auf dem selben Roman basiert die erste Staffel der TV-Serie „Shooter“ (2015 bis 2018) mit Ryan Philippe als Bob Lee Swagger; es gab insgesamt drei Staffeln.

Stephen Hunter ist passionierter Pistolen-Sportschütze; er lebt in Baltimore, Maryland.


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Ein Gangster versinkt in Paranoia