Warum ist die Stieftochter des Milliardärs ausgerissen?

Der erste Satz
Neun, nein, zehn Fahrzeuge standen vor dem Kruger-Haus, auf dem Rasen, auf der Strasse, in der Zufahrt: zwei vom Sheriff Departement, vier von der State Police, darunter eins, das als „Einsatzleitung“ markiert war, zwei Rettungswagen, der zweitbeste Löschzug der Feuerwehr von Cardiff und ein Servicewagen der Telefongesellschaft.

Krimi der Woche ∙ N° 31/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Sheriff Lucian Wing hat gerade eine erfolgreiche Deeskalationsaktion hinter sich. Er hat einen bekannten Kunden, der sich mit Frau und Kindern in seinem Haus verschanzt hat, so lange mit langweiligem Geschwätz eingenebelt, bis er aufgab. „Es ist eine Methode“, erklärt uns Icherzähler Wing, „sie ist nicht besonders spektakulär, aber oft funktioniert sie, und wenn sie funktioniert, gehen alle ruhig nach Hause.“

Zu dritten Mal erfreut uns der inzwischen 76-jährige Castle Freeman mit einem Kriminalroman mit Sheriff Lucian Wing aus Cardiff, einem Kaff im Hinterland des US-Bundestaates Vermont. Zurück von der Deeskalation sieht vor seinem Büro „eine lange schwarze Limousine, ein Schiff, das eigentlich in der Fifth Avenue in zweiter Reihe hätte parken sollen anstatt vor einem baufälligen Sheriff Departement in der Provinz“. Das verspricht nichts Gutes. Und drinnen wartet denn auch ein arroganter New Yorker Anwalt auf ihn. Er ist auf der Suche nach der Stieftochter seines stinkreichen Arbeitgebers. Die ist aus dem Internat in Boston verschwunden. Da ein Schüler aus Cardiff, mit dem sie befreundet ist, ebenfalls abgängig ist, wird sie hier in der Gegend vermutet.

Der gewitzte Sheriff Wing gibt sich gegenüber solchen Typen gerne als simpler Hinterwäldler, als den sie ihn ohnehin anschauen. Vom Versprechen, der Milliardär würde sich erkenntlich zeigen, wenn der Sheriff ihm helfen würde, lässt er sich nicht beeindrucken. Tatsächlich findet er die beiden jungen Menschen rasch. Sieht aber keine Veranlassung, den Anwalt des Stiefvaters zu informieren. Ganz im Gegenteil. Denn für den sind bereits gewalttätige Mitarbeiter unterwegs, vor denen Wing die junge Frau schützen will.

Sheriff Wing ist ein sympathischer Protagonist, auch wegen seinen beiläufigen Erkenntnissen. Etwa, wenn er sich wieder mal mit jemandem aus seiner Gemeinde unterhält: „Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich zwei Drittel meiner Arbeitszeit damit verbringen, an irgendwelche Wagen zu lehnen.“

Die Geschichte ist durchaus ernst. Dennoch ist „Herren der Lage“ auch ein ziemlich lustiger Roman. Nicht nur wartet Castle Freeman in der schlank erzählten Story mit allerlei Situationskomik auf – etwa durch ein aus einer Tiershow ausgebüxtes gewalttätiges Riesenschwein –, er brilliert auch bei den Dialogen, die knackig und witzig sind. Bei aller Härte der Handlung bleibt der Tonfall des Romans immer lakonisch heiter. Doch dabei gleitet Freeman nie in belanglose Gemütlichkeit ab. Seine Geschichte bleibt näher bei düsterem Country Noir als bei harmlosem Cozy Crime.

Wertung: 3,8 / 5

Castle Freeman: Herren der Lage
(Original: Children of the Valley. Farrago Books, Richmond UK 2020)
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag, München 2021. 183 Seiten, 29 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Channing Johnson

Castle Freeman,

geboren 1944 in San Antonio, Texas, wuchs in Chicago auf und besuchte das College der Columbia University in New York, das er 1968 abschloss. 1972 zog er nach Vermont, wo er zu schreiben begann. „Ich habe einen Grossteil meines Lebens in verschiedenen Bereichen im Verlagswesen gearbeitet“, schreibt er selbst auf seiner Website, „hauptsächlich als technischer Redaktor, Lektor, Korrektor und allgemeiner Redaktor für Buch- und Zeitschriftenverlage.“

Er war regelmässiger Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften, darunter etwa „The Old Farmer’s Alamanac“ und „Vermont Life Magazine“. Neben journalistischen Texten veröffentlichte er auch zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Sein erster Roman, „Judgement Hill“, erschien 1997. Alle seine Texte, inklusive die Romane, hätten „auf die eine oder andere Weise mit dem ländlichen nördlichen Neuengland“ zu tun, „insbesondere mit dem Bundestaat Vermont und dem Leben seiner Bewohner“. Er hat bisher rund ein Dutzend Bücher veröffentlicht. Auf Deutsch erschienen ist zuerst „Männer mit Erfahrung“ (2016; Original: „Go With Me“, 2008). Der Roman wurde 2015 vom schwedischen Regisseur Daniel Alfredson mit Anthony Hopkins, Julia Stiles und Ray Liotta verfilmt. Ebenfalls auf Deutsch gibt es die drei Romane um Sheriff Lucian Wing: „Auf die sanfte Tour“ (2017; Original: All That I Have“), „Der Klügere lädt nach“ (2018; Original: „Old Number Five“) und jetzt „Herren der Lage“ (2021, Original: „Children of the Valley“).

Castle Freeman heiratete 1969 die Künstlerin und Designerin Alice Chaffee. Sie leben seit 1975 im kleinen Städtchen Newfane (1726 Einwohner) im Windham County im US-Bundesstaat Vermont.


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