Bizarr und blutig

Der erste Satz
Meine Mitbewohnerin Amy verliess das Italian Bar & Grill noch vor Mitternacht.

Krimi der Woche ∙ N° 47/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Seema Dahami bepflanzt und pflegt als Gärtnerin in London für ihre Kundschaft kleine grüne Ecken. Ein Balkon, ein paar Blumenkistchen auf dem Fenstersims, ein Gärtchen im Hof oder auf dem Dach. Oder, quasi als Guerillagärtnerin, auch mal eine Verkehrsinsel. Dann wirbelt die zufällige Begegnung mit einem älteren, offenbar kultivierten und begüterten Mann ihr Leben durcheinander. Er raucht mit ihr Opium und will von ihr einen Dachgarten entworfen haben. Seema verfällt dem Charmeur, der sie mitzieht in eine seltsame Gesellschaft, die nächtliche Fressorgien mit blutigem Fleisch abhält.

Blut spielt eine wichtige Rolle in „Milch oder Blut“, dem neuen Roman der inzwischen 77-jährigen Britin Liza Cody, die einst zu den Pionierinnen des feministischen Hardboiled-Krimis gehörte. Der deutsche Titel spielt unter anderem auf das jüdischen Speisegesetz an, das nicht nur die Vermischung von Milchprodukten und Fleisch verbietet, sondern vor allem auch den Genuss von Blut.

Seema ist Jüdin, aber sie ist Atheistin. Die von ihrer Mutter hochgehaltenen Speiseregeln hält sie einfach ein, denn sie ist Vegetarierin. Doch nach der ersten Begegnung mit dem älteren Herrn und seiner Entourage ertappt sie sich beim gedankenlosen Essen eines Cheeseburgers. Und das ist noch das harmloseste Ereignis. Denn dann wird ihre Mutter brutal ermordet: Jemand schlitzt ihr die Kehle auf und lässt sie in ihrer koscheren Küche ausbluten.

Hat Seemas neue Bekanntschaft etwas mit dem Mord zu tun? Was hat es mit der Wunde an ihrem Hals auf sich, die sie am Tag nach der Begegnung entdeckt? Woher kommt ihr plötzliches Nasenbluten? Warum werden in ihrem Blut Rückstände von Opioiden, nicht von Opium festgestellt?

„Milch oder Blut“ ist eine bizarre, gleichzeitig wilde und witzige und wüste Geschichte: ein kurzweiliger Mix aus modernem Grossstadtbeziehungsdrama, perversen Machtspielen, jüdischen Traditionen, geschichtsbelasteter Familienhistorie, neuzeitlichen Vampirmythen und abseitiger Reality-TV-Show. Wie ein Wirbelwind tanzt Liza Cody durch unterschiedliche Szenerien und Genres. Diese nehmen zuweilen fast schon fantastische Formen an, das Ganze bleibt aber immer geerdet in der heutigen Realität. Dies nicht nur, wenn Seema meint, dass sie „nachrichtenscheu“ geworden sei und News nicht mehr ansehen wolle: „Die Gesellschaft wird immer gespaltener, die Rhetorik immer paranoider, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus nehmen immer weiter zu.“

„Milch oder Blut“ handelt von Träumen und der Wirklichkeit, von Lüge und Wahrheit. Aber vor allem von Illusion und Täuschung – und für beides hat Seema eine Schwäche.

Wertung: 4 / 5

Liza Cody: Milch oder Blut
(Original: Gift or Theft. iUniverse, London 2020)
Aus dem Englischen von Martin Grundmann
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021. 364 Seiten, 23 Euro/ca. 30 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: PD

Liza Cody

ist das Pseudonym von Liza Nassim. Sie wurde 1944 in London geboren, wo sie laut eigenen Angaben „ein besonders schreckliches Mädcheninternat“ besuchte. Sie studierte dann Kunst an der London Art School und an der Royal Academy of the Arts. Danach arbeitete sie unter anderem als Roadie „für eine der schlechtesten Bands in London“, Grafikerin, Möbeldesignerin, Coiffeurin, Putzfrau und sie kolorierte Wachsfiguren bei Madame Tussauds.

Seit 1980 veröffentlichte sie mehr als 15 Romane. Mit der Reihe um die Londoner Privatdetektivin Anna Lee (sechs Bände von 1980 bis 1991) gehörte sie zusammen mit den Amerikanerinnen Sara Paretsky und Sue Grafton zu den Pionierinnen des feministischen Hardboiled-Krimis. Ihre Bücher wurden schon früh in verschiedene Sprachen, auch ins Deutsche übersetzt, und die Anna-Lee-Reihe war Vorlage für eine britische TV-Serie („Anna Lee“, 1992/1993). Es folgte eine dreiteilige Reihe um die Wrestlerin Eva Wylie (1992 bis 1997). Seither veröffentlichte sie eine Reihe von Einzelwerken. Seit 2014 erscheinen ihre Werke auf Deutsch in der Kriminalliteratur von Frauen gewidmeten „Abteilung“ Ariadne des Hamburger Argument Verlags, der sich sonst vor allem mit linken Theorien befasst.

Liza Cody wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, in den letzten Jahren vor allem im deutschen Sprachraum. Sie lebt in der südwestenglischen Stadt Bath in der Nähe ihrer Tochter und ihrer zwei Enkelkinder.


Zurück
Zurück

Ein Vermisstenfall endet in einem katastrophalen Fiasko

Weiter
Weiter

Was hat der Ölbaron mit dem Mord am Bayou zu tun?