Auf einer Karibikinsel verschwinden Menschen

Die ersten Sätze
Ich war ohne Aussicht auf einen Job von der Schule abgegangen, dafür mit Noten, die mir laut meinen Lehrern Zugang zu jeder Universität der Welt verschaffen würden. Vorausgesetzt, ich hatte das Geld dafür.

Krimi der Woche∙ N° 18/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

„Neue Kriminalität erfordert neues Denken“, weiss Detective Superintendent Chilman. Deshalb bildet er in einem Karibikinselstaat mit neuen Leuten eine neue Polizeitruppe: „Junge Leute ohne Rumbäuche, die zackig denken und zackig handeln können. Keine alten Säcke, die noch vor Dienstschluss zu ihrer Frau und ihrer Kingsize-Mahlzeit trotten. Und wenn ich dafür junges Gemüse von der Strasse klauben muss, dann mach ich das.“ Michael „Digger“ Digson ist einer davon. Sein Vater ist zwar der Polizeichef, seine Mutter war jedoch nur Dienstmädchen bei dessen Familie. Nur weil ihm keine andere Wahl bleibt, macht er in Chilmans Truppe mit.

Als Schauplatz seines Romans „Die Knochenleser“ hat der aus Grenada stammende britische Autor Jacob Ross sich die fiktive Karibikinsel Camaho ausgedacht. Wobei er dafür nicht viel erfinden musste, da er das Leben in so einem Land kennt. Die Reise, auf die er uns mitnimmt, führt nicht auf eine pittoreske Ferieninsel, sondern in eine wenig entwickelte Gegend, in der brutale patriarchale Strukturen, Arbeitslosigkeit und Armut herrschen. Wer ein halbes Dutzend junge Frauen geschwängert hat und sich weder um die Frauen noch um die Kinder kümmert, gilt da für viele Männer als Held.

Icherzähler Digger hofft, neben seinem neuen Job den Mörder seiner Mutter ausfindig machen zu können. Sie wurde bei einer Frauendemonstration gegen die Vertuschung einer Vergewaltigung durch den Sohn eines bedeutenden Politikers erschossen. Doch zunächst muss Digger durch Chilmans harte Schule und zu einer Forensikausbildung nach England. Er erweist sich nicht nur als Talent im Erkennen von Stimmen, sondern auch im „Lesen“ von Knochen. „Knochen sprechen ihre eigene Sprache“, erkennt er, „sie können uns viel über die Person sagen, zu der sie einmal gehörten.“

Die Suche nach mehreren vermissten Menschen führt Digger und seine neue Kollegin Miss Stanislaus zu einer Gemeinde von Feuerbaptisten, in der es viele Frauen und Kinder gibt, aber kaum Männer. Bald gerät der despotische Pastor ins Visier der unkonventionellen Ermittler.

Ross entwickelt eine komplexe Geschichte, die von Verlust und Trauer handelt und die mit scharfen Beobachtungen und stimmigen Dialogen fesselt. Einfühlsam bringt er Frauenfiguren in diese Machowelt, die sich nicht mehr alles gefallen lassen wollen. So gibt es in der durch männliche Macht geprägten Gesellschaft Anzeichen eines Aufbruchs aus den althergebrachten Gefügen.

Wir dürfen uns auf mehr Geschichten aus Camaho freuen: Bereits gibt es auf Englisch eine Fortsetzung, die ebenfalls auf Deutsch erscheinen wird.

Wertung: 4,2 / 5

Jacob Ross: Die Knochenleser
(Original: The Bone Readers. Peepal Tree Press, Leeds UK 2016)
Aus dem Englischen von Karin Diemerling
Suhrkamp, Berlin 2022. 376 Seiten, 15,95 Euro/ca. 24 Franken

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Bild: PD

Jacob Ross,

geboren 1956 in Hope Valley im Karibikstaat Grenada, besuchte die 1885 gegründete Grenada Boys’ Secondary School in der Hauptstadt St. George und studierte später an der Universität von Grenoble in Frankreich. Seit den Achtzigerjahren ist er britischer Staatsbürger.

Er war als Redaktor von Literaturzeitschriften tätig und ist Associate Fiction Editor beim britischen Buchverlag Peepal Tree Press. 1986 erschien eine erste Kurzgeschichtensammlung von ihm, „Song for Simone and Other Stories“, die auch ins Deutsche übersetzt wurde („Lied für Simone“, Verlag Guthman-Peterson, Wien 1993). „Pynter Bender“ war 2008 sein erster Roman. Ausgangspunkt seines zweiten Romans, des jetzt auf Deutsch erschienenen Krimis „Die Knochenleser“ („The Bone Readers“, 2016), war eine Kurzgeschichte. 2020 erschien eine Fortsetzung, „Black Rain Falling“, die auf Deutsch ebenfalls bei Suhrkamp erscheinen wird. Ein weiterer Roman soll die Trilogie vervollständigen.

Lesereisen führten Ross unter anderem nach Deutschland, Korea und in den Nahen Osten. Er weilte zudem als Writer in Residence im Südlondoner Distrikt Streatham (2000), an der Universität von St. George in Grenada (2001) und an der Kulturakademie Darat al Funun in der jordanischen Hauptstadt Amman (2001). Er lebt in Grossbritannien.


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