Die Schuld der Überlebenden
Der erste Satz
Sie wäre – fast – eine der Überlebenden gewesen.
Krimi der Woche ∙ N° 45/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Mit gemischten Gefühlen reisen Kieran und Mia, die in Sydney leben, mit ihrem Baby nach Evelyn Bay in Tasmanien. Im kleinen Küstenort sind sie aufgewachsen. Jetzt wollen sie Kierans Mutter beim Umzug helfen. Der demente Vater kommt in ein Pflegeheim, und die Mutter zieht in seine Nähe.
Einerseits freuen sich Kieran und Mia, die alten Freunde wieder zu treffen. Andererseits verstärkt der Besuch Kierans alte Schuldgefühle: Bei einem Sturm vor zwölf Jahren sind sein älterer Bruder Finn und dessen bester Freund Toby ertrunken, als sie den in Not geratenen Kieran retten wollten. Auch Gabby, ein Mädchen im Teenageralter und damals Mias beste Freundin, kam in dem verheerenden Unwetter ums Leben. Ihre Leiche wurde nie gefunden.
„Der Sturm“ heisst der vierte Roman der englisch-australischen Autorin Jane Harper auf Deutsch, im Original „The Survivors“, die Überlebenden. Kieran, einer der Überlebenden, wird in seiner alten Heimat mit Misstrauen und Vorwürfen konfrontiert. Tobys Sohn, damals ein Kind, macht ihn für den Verlust seines Vaters verantwortlich. Und Kierans Mutter ist auch nach all den Jahren nicht über den Tod ihres Ältesten hinweggekommen.
Kein Sturm ist für den Tod der jungen Künstlerin Bronte verantwortlich, die am Tag nach Kierans und Mias Ankunft tot am Strand gefunden wird. Sie ist ermordet worden. Das löst im Dorf, aus dem die Sommertouristen abgereist und die Einheimischen unter sich sind, Verdächtigungen und Vorwürfe aus. Für die einen kann nur ein Auswärtiger die Künstlerin getötet haben, andere sehe da durchaus in der eigenen Gemeinde mögliche Kandidaten. Ihnen fällt auch auf, dass Kierans Vater, der vor zwölf Jahren der Letzte gewesen war, der Gabby gesehen hat, in der Nacht von Brontes Tod verwirrt im Ort unterwegs war.
Die Mordermittler kommen bald auf die Idee, dass der neue Fall etwas mit den Ereignissen vor zwölf Jahren zu tun haben könnte. Und plötzlich gibt es Zweifel über den Ablauf der damaligen Rettungsaktion für Kieran. Und damit auch an Kierans Schuld. Die überraschende Lösung des neuen Falls fällt leider nicht sehr überzeugend aus.
Zu den Stärken des Romans gehören Harpers atmosphärische Schilderungen des Ortes und des engen Beziehungsnetzes der Menschen dort. Alle kennen sich, manche hatten oder haben mehr oder weniger enge oder auch wechselnden Beziehungen untereinander. Und seit den tragischen Ereignissen tragen manche von ihnen Trauer in sich. Auch Wut. Und Schuld. „Die Flut hatte die Angewohnheit, alles wegzuspülen“, heisst es einmal. Das ist so mit den Spuren am Sandstrand. In den Seelen der Menschen bleiben sie.
Wertung: 3,2 / 5
Jane Harper: Der Sturm
(Original: The Survivors. Flatiron Books, Sydney 2021)
Aus dem Englischen von Matthias Frings
Rütten & Loening, Berlin 2022. 394 Seiten, 22 Euro/ca. 33 Franken
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Bild: Katsnap Photography
Jane Harper,
geboren 1980 in Manchester in England, zog mit acht Jahren mit ihrer Familie in eine Vorstadt von Melbourne in Australien. Nach sechs Jahren kehrte sie mit der Familie nach England zurück, wo sie ihre Teenagerjahre in Hampshire verbrachte, bevor sie an der University of Kent in Canterbury Englisch und Geschichte studierte. Nach dem Abschluss machte eine Journalismus-Ausbildung und arbeite mehrere Jahre als Newsjournalistin bei der „Hull Daily Mail“.
2008 zog sie wieder nach Australien, wo sie zunächst für eine Lokalzeitung in Geelong, Victoria, arbeitete; 2011 nahm sie eine Stelle als Wirtschaftsjournalistin in Melbourne an. Die Veröffentlichung einer Kurzgeschichte im Jahr 2014 motivierte sie, sich stärker dem kreativen Schreiben zu widmen. Gleich mit ihrem ersten Roman „The Dry“ (auf Deutsch zuerst unter dem Titel „Dry“ veröffentlicht, dann umbenannt in „Hitze“) gelang ihr 2016 der Durchbruch. Der Krimi wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in verschiedene Sprachen übersetzt. 2020 wurde er vom australischen Regisseur Robert Connolly verfilmt.
Auch ihre nächsten Romane sind auf Deutsch erschienen: „Ins Dunkel“ und „Zu Staub“ (alle drei Titel als Rowohlt-Taschenbücher lieferbar). „The Survivors“, unter dem Titel „Der Sturm“ auf Deutsch erschienen, ist ihr vierter Roman. Im Februar 2023 erscheint in Australien ihr fünfter Krimi „Exiles“, in der Aaron Falk, der Ermittler aus ihren ersten beiden Romanen, nochmals auftreten wird.
Jane Harper lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern an der Bucht von Melbourne.
