Wie die Politik einen Mord instrumentalisiert

Der erste Satz
An diesem Abend feierten sie in ganz Pleasantville.

Krimi der Woche ∙ N° 46/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es ist Wahlabend in Houston, Texas, im Jahr 1996. Im Schwarzenviertel Pleasantville erwarten die Menschen, dass der ehemalige Polizeichef Axel Hathorne so gut abschneidet, dass er nach der Stichwahl in einem Monat zum ersten schwarzen Bürgermeister der Stadt gekürt wird. Seine Gegenkandidatin ist die Chefin der Staatsanwaltschaft. Aber in dieser Nacht verschwindet in Pleasantville auch ein Mädchen und wird später ermordet gefunden. Der Teenager hatte anonyme Flugblätter, die Hathorne schaden sollten, verteilt.

Das weckt die Erinnerung an die bis heute ungeklärten Fälle von zwei andere Mädchen aus dem Quartier, die ermordet worden waren. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft wollen keine Verbindung zu den alten Fällen sehen. Sie beschuldigen rasch Neal Hathorne, den Neffen und Wahlkampfleiter des schwarzen Kandidaten, des Mordes. Nach langem Zögern übernimmt Anwalt Jay Porter den Mordfall mit politischen Implikationen.

In ihrem Roman „Black Water Rising“, der Anfang der Achtzigerjahre spielt, hatte die aus Houston stammende afroamerikanische Autorin Attica Locke uns mit Jay Porter bekannt gemacht. Der ehemalige Black-Power-Aktivist war Anwalt geworden und suchte mit einer eigenen Familie sein persönliches Glück. In „Pleasantville“ ist er nun, anderthalb Jahrzehnte später, nach dem Krebstod seiner Frau alleinerziehender Vater von zwei Teenagern. Und als Anwalt nach vorerst erfolgreichen, dann aber verschleppten Feldzügen gegen Chemiefirmen, die die Umgebung verseuchen, desillusioniert und demotiviert.

Rund um den Mord an dem Mädchen, der skrupellos für die umkämpfte Bürgermeisterwahl instrumentalisiert wird, erzählt Locke eine ebenso spannende wie komplexe Geschichte. Dabei geht es um fiese Wahltricks, um Korruption in Politik und Wirtschaft, um Machtspiele und Rassismus. Aber auch um einen Familienvater, der sich nicht in dreckige Spiele ziehen lassen will, aber seine Anwaltskanzlei über Wasser halten muss. Die Autorin zeichnet ihren Helden nicht einfach als strahlenden Saubermann, sondern verstrickt in widerstrebende Interessen und in innere Konflikte zwischen Job und Familie. Auch die anderen Figuren sind fast nie einfach nur gut und böse, sondern werden vielschichtig gezeichnet.

Besonders brisant ist Rolle der Wahlkampfleiterin von Hathornes Gegnerin. Für sie ist der lokale Wahlkampf in Texas ein Testlauf für die gezielte Beeinflussung bestimmter Wählerinnen und Wähler. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen die Republikaner wieder ins Weisse Haus bringen. Tatsächlich gewann dann im Jahr 2000 der Texaner George W. Bush hauchdünn gegen den Demokraten Al Gore.

Wertung: 4,3 / 5

Attica Locke: Pleasantville
(Original: Pleasantville, Amistad Press, New York 2009)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Mit einem Nachwort von Benjamin Whitmer
Polar Verlag, Stuttgart 2022. 452 Seiten, 26 Euro/ca. 36 Franken

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Bild: Mel Melcon, Los Angeles Times

Attica Locke,

geboren 1974 in Houston, Texas, studierte an der Northwestern University und war Fellow am Features Filmmakers Lab des Sundance Institutes. Sie schrieb Drehbücher für bedeutende Film- und TV-Firmen wie Paramount, Warner Bros., Disney, 20th Century Fox, DreamWorks und HBO. Als Autorin und Produzentin arbeitete sie für die erfolgreiche TV-Serie „Empire“ über die Hip-Hop-Szene, die von 2015 bis 2020 lief.

2009 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Black Water Rising“ (Deutsch 2021), für den sie für mehrere bedeutende Buchpreise nominiert wurde. Für „The Cutting Season“ (2012) erhielt sie den Ernest Gaines Award for Literary Excellence, für den jetzt auf Deutsch erschienenen Roman «Pleasantville» (2015) den Harper Lee Prize for Legal Fiction. „Bluebird, Bluebird“ (2017) war 2019 der erste Roman von Attica Locke, der auf Deutsch erschienen ist; er wurde mit dem wichtigsten Krimipreis, dem Edgar Award für den besten Roman, geehrt. In „Heaven, My Home“ (2019; Deutsch 2020) setzte sie die Geschichte des afroamerikanischen Texas Rangers Darren Mathews aus „Bluebird, Bluebird“ fort.

Attica Locke lebt mit ihrem Mann Karl und ihrer Tochter Clara in Los Angeles, wo sie nach wie vor als Produzentin und Autorin für Film- und TV-Produktionen tätig ist. Für Netflix entwickelte sie zusammen mit ihrer Schwester Tembi Locke, die Schauspielerin und Autorin ist, die auf Tembis Memoiren basierende aktuelle Mini-Serie „From Scratch“.


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