Es gibt Schlimmeres als den Tod

Der erste Satz
Es war ein heisser Tag auf dem Zermatter Bergsteigerfriedhof, ein normaler Augusttag im Wallis, wenn man 28 Grad Celsius auf einer Höhe von sechzehnhundert Metern normal nennen will.

Krimi der Woche ∙ N° 38/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Am Anfang könnte man denken, man habe einen etwas schrägen Schelmenroman vor sich. L., die Hauptfigur, von manchen auch Elle genannt oder mit dem Decknamen „Fräulein Friedhof“, hat sich eigentlich aus dem Kirchenraubgeschäft zurückgezogen, nachdem sie auf polizeilichen Fahndungslisten aufgetaucht war. Im Auftrag eines als Antiquitätenhändler getarnten Hehlers in Davos hat sie zusammen mit, ihrem Partner in Crime Jorne Serrano, Deckname „Herr Sonnenschein“, ein – im doppelten Sinn des Wortes – abgestürzter Bergführer, in Schweizer Gotteshäusern bestimmte Reliquien gestohlen, die dann als Kultgegenstände zu irgendwelchen Sekten gingen.

Nun lockt „der Mann“ aus Davos das Duo mit der stolzen Summe von je zweihundertfünfzigtausend Franken für den Raub eines Urchristenrelikts aus einem abgelegenen exkommunizierten Kloster in den Walliser Bergen, in dem abtrünnige Nonnen hausen. Dort soll sich das erste Kreuz überhaupt, der Legende nach gegossen aus den Silberlingen des Judas, befinden.

Was die Schweizer Autorin Maren Lassander (ein Pseudonym) in ihrem Romandebüt „Kreuzschmerzen“ aus dieser Ausgangslage macht, ist alles andere als ein nettes Schelmenstück. Es ist ein bitterböser Noir-Thriller, der tief in den Abgründen menschlicher Seelen wühlt, gewürzt mit brutalen Gothic-Elementen und einem Hauch von Dystopie. Ein literarisches Road Movie durch die Welt des Bösen. „Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt L. einmal. „Ich weiss nämlich, dass es Schlimmeres gibt.“

Die Erzählung mag zwar zwischendurch etwas harzig vorangehen, und in kursiver Schrift eingefügte Rückblenden sind teils etwas gar lang geraten. Dennoch vermag dieser Erstling zu faszinieren, und er glänzt immer wieder mit Sprachwitz, der einen das Schreckliche, das erzählt wird, besser verkraften lässt. Denn es gibt, zwischen eingestreuten Zitaten aus der Weltliteratur, auch drastische Splatterszenen. Und auch sonst wird allerlei Wüstes erzählt. Etwa davon, wie L. als Kind von ihrem „Vaterkerl“ missbraucht wurde.

Auch nach dem Einbruch ins Kloster geht es grob zur Sache. Auf der Flucht gerät L. an einen Trucker, der zwischen den Blumen in seinem Kühltransporter auch Leichenteile durchs Land fährt. Und der sich als „Entschöpfer“ sieht, der unterwegs kaum eine Gelegenheit auslässt, seine Totenkollektion zu erweitern. Er ist nicht der einzige, der in dieser Geschichte das Böse repräsentiert. Selbst L. sagt von sich: „Ich bin kein guter Mensch.“

Das zentrale Thema des Romans ist auch über die Raubzüge hinaus die Kirche, namentlich die katholische. Gleich am Anfang, nach einem Prolog, serviert Lassander eine fulminante, ätzende, aber auch amüsante Kirchen- und Religionskritik, die natürlich auch die Diebstähle von „ein paar Antiquitäten, für die die Kirche sowieso keine Verwendung mehr hat“ rechtfertigt. Aber grundsätzlich gemeint ist. Schon in einem Schulaufsatz habe L. „die biblischen Wunder als ,Schaustückchen, die jedem Varietékünstler die Schamröte ins Gesicht treiben würden’, bezeichnet“. Die Heilige Schrift, „das kirchliche Betriebssystem“, sei „ein einziger Schwindel aus Hirten-, Huren- und Sippengeschichten, Halbwahrheiten und abgekupfertem Kitsch“.

Der Katholizismus erschien L. „wie ein Freibrief, aus Leibeskräften Böses zu tun“. Die in der Schweiz gerade aufgedeckten tausend Missbrauchsfälle, die nur die Spitze eines Eisbergs sein dürften, belegen solch harte Aussagen. Bedenkenswert auch diese: „Erst der echte Wahnsinn des Christentums – seine schlimmsten Feinde zu lieben – legte das Fundament der bis heute einzigartigen Sklavenreligion: Wer sich zu ihr bekannte, streckte die Waffen, er schied aus dem natürlichen Wettbewerb aus. Einmal christianisiert, wurden aus freien Menschen erbärmliche Schlucker, die das einzige Leben, das sie hatten, für ein fadenscheiniges Quasidabeisein im Jenseits verwirkten. Das passte vielen Despoten gut in den Kram.“

„Kreuzschmerzen“ ist ein ganz aussergewöhnlicher Kriminalroman: gewitzt und gescheit, barbarisch und böse, radikal und rebellisch, tiefgründig – und auch ein bisschen todessehnsüchtig.

Wertung: 3,9 / 5

Maren Lassander: Kreuzschmerzen
Golkonda, München 2023. 368 Seiten, 22 Euro/ca. 33 Franken

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Bild: „Selbstporträt als Einäugige“ von Maren Lassander (Mixed Media, 2022) / marenlassander.ch

Maren Lassander

ist das Pseudonym einer Schweizer Autorin. Laut den Angaben des Verlags ist sie 1998 geboren. Sie hat schweizerisch-deutsche Wurzeln und wuchs in einem katholischen Elternhaus auf.

Laut ihrer Website hat sie Kunsthistorik und Bildende Kunst studiert und war unter anderem als Fotomodell, Privatdozentin, Grafik-Designerin, Call-Center-Mitarbeiterin, Produktmanagerin für Gruppenreisen bei einem Busreiseunternehmen und Praktikantin bei einem Zürcher Auktionshaus tätig. „Kreuzschmerzen“ ist ihr erster Roman.

Die Autorin sagt, sie verstehe sich als schreibende Kunstfigur und ihr Leben „als Spiel mit der ,angewandten Fiktion’“. Ihre Entscheidung, anonym zu bleiben, hänge auch mit ihrer Erfahrung zusammen, dass es bei der Beurteilung von Romanen „im Kulturbetrieb neuerdings mehr um Reputation, Connections als um das geschriebene Wort“ gehe.

Sie gibt an, zeitweise in Deutschland, Italien, Frankreich, Polen und Russland gelebt zu haben. Laut dem Verlag lebt sie mit ihrem Hund Arjen in einem Dorf am Ende des Maggiatals im Tessin.


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