Holly Gibney jagt senile Kannibalen

Der erste Satz
Es ist eine alte Stadt, die nicht mehr in besonders gutem Zustand ist, was auch für den See gilt, an dem sie erbaut wurde.

Krimi der Woche ∙ N° 39/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Die Altersforschung boomt. Denn immer mehr Menschen wollen immer älter werden. Unsterblich gar. Zu den Therapien, die erforscht werden, gehören etwa Infusionen von Blutplasma von jungen Menschen. Das soll verjüngend wirken, hat ein Schweizer Neurowissenschaftler, der an der renommierten Stanford University an einer Plasmatherapie gegen Alzheimer forscht, herausgefunden. Das ist Fakt, keine Fiktion.

Vor diesem Hintergrund wirkt das betagte Professorenpaar Harris, das in Stephen Kings neuem Roman „Holly“ junge Menschen kidnappt und tötet, um durch deren Innereien und Fleisch ihr eigenes Leben zu verlängern, eigentlich gar nicht so wahnsinnig durchgeknallt. Obwohl sie es durchaus sind. Der emeritierte Biologe, der an der Uni Mr. Meat genannt wurde, und die ebenfalls emeritierte Englischprofessorin sind nicht einfach alte Leutchen, die ein bisschen zu weit gegangen sind. Sie sind in der Tat bösartig und hinterhältig. Und auch rassistisch. Sie vor allem. Er bringt immer weniger auf die Reihe; die Demenz nagt an ihm, da kann er noch so viel junges Hirn schlürfen.

Die private Ermittlerin Holly Gibney, die King 2014 in „Mr. Mercedes“, dem ersten Teil der Bill-Hodges-Trilogie, erstmals auftreten liess, bekam in seinem neuen Roman die Titelrolle. Auf der Suche nach einer vermissten jungen Frau, die an der lokalen Universitätsbibliothek arbeitet, kommt sie dem geriatrischen Killerpaar auf Umwegen auf die Spur. Vor allem, weil sie nach und nach erkennt, dass in den letzten Jahren in der Gegend andere Menschen verschwunden sind. Und dass es da immer wieder Bezüge zu dem als etwas schrullig geltenden Paar gibt.

Holly hat eben ihre Mutter zu Grabe getragen, mit der sie sich in letzter Zeit zunehmend gezofft hat. Über Trump. Über Corona. Diese Krankheit, die es gar nicht gibt und gegen die die Mutter deshalb auch keine Impfung wollte, hat sie schliesslich dahingerafft. Wie so oft zeichnet Stephen King neben der raffiniert aufgebauten spannenden Geschichte ein Bild der Zeit, in der die Story spielt. Es ist, abgesehen von Rückblenden, der Sommer 2021. Die Präsidentschaft von Trump und die Verwerfungen, die sie in der Gesellschaft verursacht hat, wirken nach; die Pandemie lässt Holly und ihre Freunde vorsichtig sein, während andere die Maskenträger und Ellbogengrüsser verspotten. Obwohl es eigentlich wenig zu lachen gibt, prägt subtiler Humor die Erzählweise.

Natürlich hat es Vielschreiber King auch hier auf über sechshundert Seiten geschafft. Leicht selbstironisch beklagt er sich in einer Nachbemerkung über die Kürzungsvorschläge, die seine Lektorin durchgesetzt habe. Und natürlich fragte ich mich einmal mehr, als ich den neuen Klotz von King in der Hand hielt, ob ich mir diesen Umfang jetzt wirklich antun soll. Und wie immer dachte ich, kaum war ich in der Geschichte drin, überhaupt nicht mehr daran. Weil King es versteht, eine Art angenehm prickelnden Sog zu entwickeln, den einen einfach mitzieht.

Wertung: 4 / 5

Stephen King: Holly
(Original: Holly. Scribner, New York 2023)
Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt
Heyne, München 2023. 640 Seiten, 28 Euro/ca. 38 Franken

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Bild: Shane Leonard

Stephen King,

geboren 1947 in Portland im US-Bundesstaat Maine, ist einer der weltweit bekanntesten und erfolgreichsten Autoren. Er begann schon als Siebenjähriger, Geschichten zu schreiben und schaute sich im Kino gerne Fantasy- und Science-Fiction-Filme an. Schon früh entwickelte er eine Vorliebe für düstere Horror- und Fantasy-Storys.

Er studierte Englisch an der University of Maine in Orono und arbeitete danach zunächst als Englischlehrer. Daneben begann er zuerst Kurzgeschichten, dann auch Romane zu schreiben. Die ersten Romane wurden jedoch von keinem Verlag angenommen. Später überarbeitete er sie und veröffentliche sie unter dem Namen Richard Bachmann.

Den Durchbruch schaffte er schon mit dem ersten veröffentlichten Roman, „Carrie“ (1974), der von Brian De Palma mit Sissy Spacek und John Travolta auch erfolgreich verfilmt wurde. King entwickelte sich zum Vielschreiber, der oft in einem Jahr mehrere Romane veröffentlichte. Bis heute sind es insgesamt mehr als 60, und viele davon sind auch verfilmt worden, darunter etwa „Shining“, „Knightriders“, „Creepshow“, „Dead Zone“, „Cujo“, „Christine“, „Pet Sematary“ („Friedhof der Kuscheltiere“), „Tales from the Darkside“ („Geschichten aus der Schattenwelt“), „Misery“ und „Needful Things“ („In einer kleinen Stadt“). Seine Bücher werden in mehr als 40 Sprachen übersetzt; die Gesamtauflage lag 2017 bei über 400 Millionen Exemplaren. Es handelt sich dabei mehrheitlich um Horrorgeschichten, die gerne sehr umfangreich sind; die achtbändigte Reihe „Der Dunkle Turm“ ist eine Fantasy-Saga. King wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Gelegentlich macht er als Gitarrist und Sänger in der Band Rock Bottom Remainders mit, die vor allem an Benefizanlässen auftritt und der auch andere Autoren wie Dave Barry, Ridley Pearson, Amy Tan und Matt Groening angehören. Er ist sehr aktiv in den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter. Als Vielleser empfiehlt er immer wieder Bücher von Kolleginnen und Kollegen. Er äussert sich auch gerne zur US-Politik; in den letzten Jahren profilierte er sich harter Trump-Kritiker.

Er heiratete 1971 Tabitha Spruce; sie hatten sich während dem Studium an der Uni in einem Literatur-Workshop kennengelernt. Tabitha King ist selber auch Schriftstellerin. Auch zwei Söhne wurden Schriftsteller, Owen Philip King und Joseph Hillström King, der unter dem Namen Joe Hill publiziert; Tochter Naomi Rachel King ist Pfarrerin bei der liberalen Religionsgemeinschaft Unitarian Universalist Association.

Stephen und Tabitha King leben in Bangor im US-Bundesstaat Maine, wo sie eine Gruppe von drei Radiostationen besitzen. Sie spendeten der Stadt ein Sportstadion und vergeben über eine Stiftung, die Stephen and Tabitha King Foundation, jährlich gegen 3 Millionen Dollar für wohltätige Zwecke.


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