In der digitalen Welt bleibt nichts privat

Der erste Satz
Das Handy der Zielperson ist infiltriert.

Krimi der Woche ∙ N° 46/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Romane, die sich auf der Höhe der aktuellen Technologien mit den Möglichkeiten, welche die digitale Welt jenen bietet, die anderen Böses wollen, sei es aus rein kriminellen oder aus politischen Gründen, auseinandersetzen, sind immer noch eher rar. Viele Autor:innen wagen sich nicht wirklich konkret daran, teils vielleicht aus Angst, nicht genug davon zu verstehen. Einzelne verlegen die Zeit der Handlung schon mal auf die Zeit vor der Mobiltelefonie, weil sie sich durch die neuen Technologien den Plot nicht verkomplizieren lassen wollen.

Nicht so der israelische Autor und Rechtsanwalt Yishai Sarid. Er zeigt in seinem neuen Roman „Schwachstellen“, wie man heutzutage auf Computernetzwerke und Mobiltelefone zugreifen und alles darauf nicht nur überwachen, sondern auch manipulieren kann. Sarid benutzt dazu die Geschichte eines jungen Hackers in Tel Aviv. Sivi ist ein echter Nerd, der sich in der digitalen Welt mit Leichtigkeit bewegt, bei der Kommunikation mit echten Menschen in der echten Welt aber Mühe hat. Ausgebildet wurde er in der israelischen Armee. Er kommt aus einer schwierigen Familie. Die Schwester, die als Kind missbraucht wurde, steckt in der Drogenszene. Der Vater verkommt langsam, nachdem er ein Geschäft nach dem anderen in den Sand gesetzt hat. Die Mutter, die in der Pflege im Spital arbeitet, datet derweil einen Arzt.

Wegen seinen ausserordentlichen Fähigkeiten im Aufspüren von Schwachstellen in digitalen Systemen, die von seinen militärischen Vorgesetzen gerühmt werden, bekommt Sivi einen gut bezahlten Job bei einer Firma, die sich als Technologieunternehmen bezeichnet. Es handelt sich dabei um eine Art privaten Geheimdienst, der auch mehr als zweifelhaften Regimes auf dieser Welt hilft, mit ihren Überwachungsaktivitäten auf der Höhe der Zeit zu sein. Sivi ist zwar zuweilen einen Moment irritiert über die Ziele, aber was soll ihn das kümmern, für ihn ist das nur ein spannender Job. „Ich sah, wie das System Tausende von Telefonen zur Überwachung ortete und infiltrierte. Alles lief einwandfrei. Ich kann von hier aus alle Telefone der Welt kontrollieren, und keiner kann mich aufhalten, sagte ich mir.“

Immer mehr nutzt Sivi die Abhörsysteme auch neben der Arbeit. Er überwacht etwa seine Schwester, schaut, ob seine Mutter wirklich einen anderen hat, wie der Vater behauptet, spioniert einer Mitarbeiterin der Firma nach, in die er sich verliebt hat. Er geht ins System, „um zu sehen, was sich bei Menschen, die ich kannte, tat“. Mit der Zeit verfolgt er, wie im Rausch, auch beliebige Personen. „Ich merkte, dass ich süchtig wurde und mich in ein Monster verwandelte. Schleppte mich morgens zur Arbeit, lauerte aber nur darauf, abends heimzukommen und meine private Lauschstation einzuschalten. Ich teilte den Bildschirm auf und beobachtete mehrere Ziele gleichzeitig. Sog ihr Leben ein, als verschlänge ich Schokolade, Wurst und Brei auf einmal, bis mir zum Kotzen war.“

Er hat schon manche Grenze überschritten, schon mal mit drastischen Folgen für einen Bösewicht, der sich seine Schwester als Spielzeug hielt. Doch dramatisch für Sivi wird es erst, als er Hinweise auf ein von ihm installiertes System in den Drohungen gegen einen liebenswürdigen alten Nachbarn, der für den Erhalt von Bäumen kämpft und dabei Immobilienhaien ins Gehege kommt, findet. Das gehe doch zu weit, findet er, und spricht mit seinem Chef darüber. Der beruhigt den brillanten Mitarbeiter zwar vordergründig, doch Sivi spürt rasch, dass der Wind gedreht hat und findet sich auf der Flucht wieder.

Eindrücklich und realistisch zeigt Sarid in dem über weite Strecken fesselnden Psychothriller, dass alles, was wir auf irgendwelchen digitalen Kanälen kommunizieren, verbreiten, teilen und konsumieren, nicht mehr wirklich privat bleibt. Mit den heutigen Technologien ist der Zugriff auf praktisch alles möglich. Neue Verschlüsselungen halten nur so lange, bis einer wie Sivi seine Schwachstelle gefunden hat. Und das geht meist schneller, als man denkt.

Wertung: 3,8 / 5

Yishai Sarid: Schwachstellen
(Original: Megale HaChulschot. Am Oved, Tel Aviv 2023)
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, Zürich 2023. 286 Seiten, 24 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: Althazarius via Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Yishai Sarid,

geboren 1965 in Tel Aviv, Sohn des bekannten israelischen Journalisten, Politikers und wichtigen Exponenten der Friedensbewegung Jossi Sarid, war Offizier im Nachrichtendienst der israelischen Armee. Danach studierte er Jura in Jerusalem und Öffentliche Verwaltung an der Harvard University in den USA. Bevor er sich als Rechtsanwalt selbständig mache, war er als Staatsanwalt tätig.

2000 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Im Zürcher Verlag Kein & Aber erschienen vor „Schwachstellen“ bereits „Limassol“ (Original 2009, Deutsch 2010), „Alles andere als ein Kinderspiel“ (2013/2014), „Monster“ (2017/2019) und „Siegerin“ (2020/2021). Für den Politthriller „Limassol“ wurde Sarid in Frankreich 2011 mit dem Grand prix de littérature policière ausgezeichnet.

Sarid lebt in Tel Aviv, wo er eine Anwaltskanzlei betreibt. Er ist verheiratet mit der Pädiatrie-Intensivmedizinerin Dr. Racheli Sion-Sarid; das Paar hat drei Kinder.


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