Scharfschützen(romane) sind ein Auslaufmodell

Der erste Satz
Das Bewusstsein kam und ging; der Schmerz war konstant.

Krimi der Woche ∙ N° 01/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Scharfschützenromane lasse ich in der Regel links – oder eher rechts … – liegen. Denn ich kann mich wenig erwärmen für zentrale Aspekte solcher Geschichten wie die Begeisterung für Hightech-Schusswaffen, für ihre Technik, aber auch für ihre Anwendung, die Faszination für die Komplexität des Tötens auf Distanz, dazu Machotum und oft das Feiern soldatischen Heldentums. Obwohl solche Aspekte in seinen Werken auch vorkommen, mache ich bei Stephen Hunter gerne mal eine Ausnahme. Denn der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete frühere Filmkritiker der „Washington Post“ ist ein guter Erzähler, er schreibt mit Humor und oft auch mit Ironie, entwickelt ziemlich raffinierte Plots und liefert damit reichlich Action und Spannung.

Jetzt liegt mit „Dead Zero“ aus dem Jahr 2010 unter dem deutschen Titel „Todesschuss“ der siebte Band seiner im Original schon zwölf Romane umfassende Serie um den Scharfschützen Bob Lee Swagger vor. Mit dem brillanten und witzigen Vorgänger „Im Visier des Snipers“ kann „Todesschuss“ zwar nicht mithalten, doch der Grundplot ist reizvoll. Ray Cruz, der beste Scharfschütze der US-Marines, ist unterwegs, um einen als „Enthaupter“ berüchtigten afghanischen Warlord auszuknipsen. Als Hirten getarnt ziehen er und sein Spotter mit einer kleinen Herde von Ziegen zum Wohnort des Afghanen. Unterwegs werden sie überfallen, der Spotter wird getötet. Cruz überlebt, und er ist sicher, dass die Angreifer Amerikaner sind. Sie verfügen über modernste Waffen und haben offenbar Zugriff auf Satelliten für die Ortung ihres Ziels. Dennoch zieht er weiter. Wenige Minuten nachdem er seinen Vorgesetzten gemeldet hat, dass er seine Schussposition auf dem Dach eines Hotels gegenüber dem Wohnsitz des Warlords eingenommen habe, schlägt eine gewaltige Rakete ein. Wo das Hotel stand, ist nur noch ein Krater. 31 Menschen werden getötet,

Ein paar Monate später ist der „Enthaupter“ der neue Verbündete der Amerikaner in Afghanistan und soll gar zum Präsidenten des Landes aufgebaut werden. Zunächst wird er die USA besuchen und mit allen Ehren auch im Weissen Haus empfangen werden. Da schreckt ein Anruf des vermeintlich durch die Rakete getöteten Ray Cruz bei seiner Einheit Militärs und Geheimdienste auf: Er sei ihm Land, und er werde den Auftrag, den Warlord zu töten, nun vollenden, meldet der Schütze. FBI und CIA tun sich zusammen, um das zu verhindern. Sie ziehen den legendären, längst in Rente gegangenen Scharfschützen Bob Lee Swagger bei. Mit seinem Wissen und seiner Erfahrungen, seinem Denken als Scharfschütze, soll er helfen, Cruz rechtzeitig zu finden. Doch Swagger beginnt schon bald, die Beweggründe und das Vorgehen von Cruz, in dem er mehr und mehr eine junge Version von sich selbst sieht, zu verstehen. Derweil sind die Söldner, die ihn in Afghanistan überfallen haben, nun in den USA hinter Cruz her.

Im Verlauf der spannenden und actionreichen Geschichte müssen Swagger und Cruz erkennen, dass das Ganze eine politische Angelegenheit ist. Und dass sich die Politik durchsetzen wird und nicht die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Im letzten Drittel nimmt die Geschichte für meinen Geschmack die eine und andere Wendung zu viel. Besonders interessant sind vorher aber die Einblicke in die neuen Technologien des Tötens. In der Creech Air Force Base in Nevada, die Swagger im Rahmen seiner Ermittlungen zum Raketenangriff in Afghanistan besucht, sitzen junge Frauen und Männer vor Monitoren und steuern per Joystick Drohnen und Raketen irgendwo auf der Welt präzise zu ihren Zielen. Das hat Stephen Hunter nicht erfunden, das ist Realität. Die Schützen müssen heute nicht mehr gefährliche Einsätze vor Ort leisten, sondern sie sitzen in Bermuda-Shorts und Flipflops in klimatisierten Hallen in einem Kaff namens Indian Springs in der Wüste von Nevada. Und können von da aus per Knopfdruck nicht nur einzelne Personen töten, sondern ganze Orte dem Erdboden gleichmachen.

Das macht, zumindest im militärischen beziehungsweise geheimdienstlichen Bereich – für den „normal“ kriminellen Bereich ist die Technologie wohl noch zu teuer und zu komplex –, Scharfschützen zum Auslaufmodell. Und damit mit der Zeit auch die Scharfschützenromane, die bald nur noch historisch funktionieren werden.

Wertung: 3,2 / 5

Stephen Hunter: Todesschuss
(Original: Dead Zero. Simon & Schuster, New York 2010)
Aus dem Englischen von Patrick Baumann
Festa Verlag, Leipzig 2023. 551 Seiten, 16,99 Euro/ca. 25 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Kelly Campbell/Simon & Schuster

Stephen Hunter,

geboren 1946 in Kansas City, Missouri, hat Journalismus studiert und war dann drei Jahre in der US-Army. 1971 begann er als Redaktor bei der Tageszeitung „The Baltimore Sun“, wo er 1982 Filmkritiker wurde. 1997 bis 2008 war er Filmkritiker bei der „Washington Post“; 2003 wurde er für seine Kritiken mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Sein erster Roman, „The Master Sniper“, erschien schon 1980; seither veröffentlichte er mehr als zwei Dutzend Bücher, darunter auch Sachbücher mit Texten zu Filmen. Die Thriller-Reihe mit dem Scharfschützen Bob Lee Swagger umfasst inzwischen zwölf Bände, „Dead Zero“ (2010; Deutsch: „Todeschuss“) ist der siebte Band. Mit dem in „Todesschuss“ eingeführten Scharfschützen Ray Cruz als Hauptfigur legte Hunter 2011 den Roman „Soft Target“ vor. Zudem gibt es eine Spin-off-Serie um Bob Lees Vater Earl Swagger mit vier Bänden. Der erste Bob-Lee-Swagger-Roman, „Point of Impact“ (1993; Deutsch: „Im Fadenkreuz der Angst“, 1994) wurde 2007 von Regisseur Antoine Fuqua unter dem Titel „Shooter“ mit Mark Wahlberg als Bob Lee Swagger verfilmt. Auf demselben Roman basiert die erste Staffel der TV-Serie „Shooter“ (2015 bis 2018) mit Ryan Philippe als Bob Lee Swagger; es gab insgesamt drei Staffeln.

Stephen Hunter gilt als Schusswaffen-Enthusiast und ist passionierter Pistolen-Sportschütze; er lebt in Baltimore, Maryland.


Zurück
Zurück

Im Regenwald lauert der Tod

Weiter
Weiter

Die 15 besten Kriminalromane des Jahres 2023