Bordeaux ist ein Reich der Finsternis

Der erste Satz
Unbeweglich und düster stehen sie im bläulichen Licht, das der Regen über ihnen zerstäubt, Atemwölkchen vor den Mündern werden rasch vom trägen Wind verweht, der um die Straßenbahnschienen streicht, und sie warten, etwa ein Dutzend, starr, dick eingepackt, und halten sich von dem regungslosen Mann unter der Bank fern.

Krimi der Woche ∙ N° 05/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Ein grosser junger Mann liegt unter einer Bank an einer Tramhaltestelle. Sein T-Shirt ist voller Blut. Es ist nicht sein Blut, wird sich zeigen. Er hat keine Ausweise und auch sonst nichts dabei, womit man ihn identifizieren könnte. Bei der Polizei sagt er nichts, murmelt nur mal: „Darf man nicht“. Und springt aus dem Fenster. Damit beginnt der tiefschwarze Horrortrip durch das verregnete Bordeaux, auf den uns Hervé le Corre in „Durch die dunkelste Nacht“ mitnimmt.

Die DNA des Toten auf dem Trottoir vor der Polizeizentrale bringt die Polizei auf die Spur eines unheimlichen Frauenmörders, der in der Region sein Unwesen treibt. Es muss sein Halbbruder sein. Diesem, einem durch seine Mutter missbrauchten Lastwagenfahrer, folgt einer der Handlungsstränge. Tagsüber liefert er Baumaterial aus. Nachts geht er, getrieben durch seine gepeinigte Seele, mit dem Messer auf die Jagd.

Louise ist eine alleinerziehende Mutter, sie hat einen achtjährigen Sohn. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern war sie in einen Sumpf von Drogen, Sex und Gewalt versunken. Das Kind änderte alles. Sie schlägt sich als Haushaltshilfe durch. Doch ein Ex – nicht der Vater des Sohnes, der ist verschwunden – terrorisiert sie, verfolgt sie, verprügelt sie, droht ihr mit dem Tod. Ein anderer Bekannter von früher nutzt ihre Notlage aus.

Verbunden werden die beiden Handlungsstränge durch Commissaire Jourdan von der Kriminalpolizei. Er ist auf der Suche nach dem Frauenmörder, und er wird in den Konflikt zwischen Louise und ihrem Ex involviert. Dazwischen treibt ihn das pure Grauen bei der Arbeit immer weiter in Düsternis und Depressionen. Drei Kinder und ihre Mutter erschossen in einer Wohnung. Zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichen in einem abgefackelten Haus, eine grässlich zugerichtete Leiche in einem Kofferraum. Er hat genug davon. Als er mit den Kollegen in der Kantine sitzt, möchte er „allen, die hier sitzen, sagen, dass er nicht mehr kann, dass das aufhören muss, dass er seit zwei Monaten das Gefühl hat, alle Substanz laufe aus im raus wie aus einem Luftballon und dass bald nur noch eine leere Hülle von ihm übrig ist, die Haut auf den Knochen, ein schief gelegter Totenkopf“.

Ander als die französischen Noir-Meister Yves Ravey und Pascal Garnier, die wir in letzter Zeit auf Deutsch entdecken konnten, die äusserst sparsam, fast schon minimalistisch erzählen, breitet Hervé Le Corre seine Geschichte sehr wortreich aus. Dabei verfällt er jedoch nicht in die typisch französische Art, etwas erzählerisch mit viel Redundanz mehrmals elliptisch zu umkreisen. Sein steter Wortfluss wirkt selten ermüdend, sondern zieht einen immer tiefer in einen bedrückenden Strudel von Gewalt, Seelenqualen und Boshaftigkeit, in dem kurz aufblitzende Hoffnungsschimmer schnell wieder in der Dunkelheit versinken. Bordeaux, ist ein Reich der Finsternis. Mindestens bei Le Corre.

Wertung: 4,2 / 5

Hervé Le Corre: Durch die dunkelste Nacht
(Original: Traverser la nuit. Rivages, Paris 2021)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Suhrkamp, Berlin 2023, 334 Seiten, 17 Euro/ca. 26 Franken

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Bild: Philippe Matsas/Opale/éditions Payot & Rivages

Hervé Le Corre,

geboren 1956 in Bordeaux, schloss 1972 das Lycée Michel-Montaigne in Bordeaux mit dem literarischen Baccalauréat (Matura/Abitur) ab. Anschliessend studierte er Literaturwissenschaften an der Universität Bordeaux-Montaigne. Zunächst war er Lehrer für Literatur an einem Collège in Bègles, einem Vorort von Bordeaux. Und er war ein begeisterter Leser, unter anderem von Kriminalliteratur.

Im Alter von 30 Jahren begann er, Noir-Romane zu schreiben und war damit von Anfang an erfolgreich. Sein erster Roman, „La Douleur des morts“, erschien 1990. Inzwischen hat rund zwanzig Romane veröffentlicht. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. „Traverser la nuit“ (2021), der jetzt als „Durch die dunkelste Nacht“ erschienen ist, ist sein erster Roman, der ins Deutsche übertragen wurde. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grand prix de littérature policière 2009 für „Les Cœurs déchiquetés“. „Traverser la nuit“ wurde 2022 am Kriminalliteraturfestival Quais du polar in Lyon mit dem Preis der Leser von „20 minutes“ ausgezeichnet


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