So einen Serienkiller-Roman haben wir noch nie gelesen

Der erste Satz
Du bist ein Fingerabdruck.

Krimi der Woche ∙ N° 07/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Ansel Packer hat mehrere Frauen ermordet. In zwölf Stunden wird er mit einer Spritze hingerichtet. Das ist der Plan der Justiz. Er hat ein anderes Ziel. Mit einer Gefängniswärterin, der er schöne Augen gemacht hat, hat er seine Flucht geplant, während er von seinem Gefängnis zur Todeszelle in einer anderen Einrichtung überführt wird.

Der Countdown über die zwölf Stunden bis zur Todesspritze bildet den Rahmen des Romans „Notizen zu einer Hinrichtung“. Der dreissigjährigen Amerikanerin Danya Kukafka ist mir ihrem zweiten Buch eine faszinierende Serienmörder-Geschichte gelungen, die sich radikal unterscheidet von den gängigen Serienkiller-Romanen. In dem mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Kriminalroman des Jahres 2022 ausgezeichneten Werk geht es weder konkret um die Taten des Mörders noch um die Suche nach ihm. Es geht vielmehr darum, wie seine Taten das Leben anderer Frauen beeinflusst. Und auch um die Frage, warum uns „durchschnittlich Männer“ nur dann interessieren, wenn sie Frauen verletzen oder töten.

Eigentlich erzählt der Roman die Geschichten von drei Frauen, in welchen sich die Geschichte des Mörders spiegelt. Parallel zum Exekutions-Countdown werden deren Geschichten und ihre Begegnungen mit Ansel Packer abwechselnd chronologisch erzählt.

Da ist zuerst Lavender, Ansels Mutter, die ihn schon als Siebzehnjährige bekommen hat. Ihr gewalttätiger Ehemann hält sie auf seiner abgelegenen Farm in den Adirondacks im Nordosten des US-Bundesstaates New York wie eine Gefangene. Nach der Geburt des zweiten Sohnes vier Jahre später kann sie nicht mehr. Sie flieht und alarmiert die Behörden, damit die Kinder gerettet werden. Sie findet Zuflucht in einer Art Kommune von Frauen in Kalifornien. Erst Jahrzehnte später geht sie dem Schicksal ihrer Kinder nach.

Als Jugendliche lernt Saffy – Saffron Singh – bei einer Pflegemutter für Waisenkinder Ansel kennen. Und sie ist fasziniert von seinem Charme. Bis sie ihn beim Töten von Tieren ertappt. Später wird sie Polizistin und eine erfolgreiche Ermittlerin. Und die Fälle von drei getöteten Mädchen beschäftigt sie viele Jahre lang. Sie ist überzeugt, dass Ansel der Täter ist. Doch handfeste Beweise hat sie nicht.

Die dritte Frau ist Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny. Die Pflegefachfrau Jenny heiratet Ansel. Hazel fühlt sich einerseits angezogen von Ansel, anderseits ist er ihr suspekt. Auch Jenny traut ihm je länger je weniger über den Weg. Und verlässt ihn.

In diesem Roman kennt man den Mörder von Anfang an. Und auch seine Morde sind bald bekannt. Obwohl – oder wohl doch eher weil – es also nicht wie in üblichen Serienkiller-Romanen darum geht, wer der Täter ist und ob man ihn vor der nächsten Tat erwischen wird, ist „Notizen zu einer Hinrichtung“ ein ungemein spannender Roman. Denn Kukafka blättert die Lebensgeschichten der drei Frauen, die durch Ansel auf die eine und andere Art stark beeinflusst sind, auf brillante Art über mehrere Jahrzehnte auf. Und sie stellt grundsätzliche Fragen zu Gut und Böse, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

So einen Serienkiller-Roman haben wir zuvor noch nie gelesen.

Wertung: 4,5 / 5

Danya Kukafka: Notizen zu einer Hinrichtung
(Original: Notes on a Execution. HarperCollins, New York 2022)
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Blumbenbar/Aufbau, Berlin 2024. 348 Seiten, 22 Euro/ca. 32 Franken

Bestellen bei Amazon

 

Bild: Devin Muñoz

Danya Kukafka,

geboren 1993, ist in Colorado aufgewachsen und zog dann nach New York, um zu studieren. Zunächst studierte sie an der Gallatin School of Individualized Study der New York University. Sie absolvierte Praktika bei verschiedenen Literaturagenturen und arbeitete danach bei beim Verlag Riverhead Books, einem Imprint von Penguin Random House. An der University of New York studierte sie zudem Creative Writing bei Colson Whitehead.

Ihr erster Roman „Girl in Snow“ (2017; Deutsch 2018 unter dem gleichen Titel bei btb) wurde in den USA ein Bestseller, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und wird als Serie für Amazon Prime verfilmt. „Notes on a Execution“ ist ihr zweiter Roman. Er wurde 2023 mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Kriminalroman des Jahres 2022 ausgezeichnet.

Danya Kukafka ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Seattle. Neben der eigenen Schriftstellerei ist sie als Literaturagentin bei Trellis Literary Management tätig.


Zurück
Zurück

So geht gescheite feministische Unterhaltung

Weiter
Weiter

Rache als Anschläge gegen Klimasünder getarnt