Rache als Anschläge gegen Klimasünder getarnt

Der erste Satz
„Das da vorne muss eine Frau sein. Hundertpro“, denkt er wütend und tritt aufs Gaspedal.

Krimi der Woche ∙ N° 06/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Arne Dahl ist ein schwedischer Bestsellerautor, der mehr als zwanzig Kriminalromane veröffentlicht hat, die in viele Sprachen übersetzt wurden und die sich laut seinem Agenten mehr als fünf Millionen Mal verkauft haben. Wahrscheinlich sind es viel mehr, denn allein auf Deutsch sollen mehr als zweieinhalb Millionen Bücher von ihm verkauft worden sein. Dahl, eigentlich Jan Lennart Arnald, gehört zu einer Spezies, die hier eher selten vorkommt. Denn massentauglichen Mainstream finde ich in der Regel nicht so interessiert. Was nicht heisst, dass er immer schlecht wäre.

Dahl steht mit seinem neuen Titel „Stummer Schrei“ auf Platz 1 der aktuellen Krimibestenliste (Februar 2024). Das hat mich etwas überrascht, obwohl ich von Kolleginnen und Kollegen der Bestenliste-Jury (der ich ebenfalls angehöre) zuvor positive Äusserungen zu diesem Titel mitbekommen habe. Das war für mich der Grund, das Buch zu lesen.

Mit „Stummer Schrei“ startet Dahl eine neue Reihe mit der Ermittlerin Eva Nyman und ihrem Nova-Team. Nach einem Anschlag auf einen Vertreter der Stahlindustrie erhält Nyman ein an sie geschicktes Bekennerschreiben. Absender ist offenbar ein wütender Klimaaktivist, der verschlüsselt weitere Anschläge ankündigt. Einzelne Passagen des Briefs erinnern Nyman an ihren ehemaligen Chef Lukas Frisell. Dieser verabscheute die neuen digitalen Technologien und zog sich vor Jahren zurück in die Einsamkeit der Wälder. Nyman und ihre Leute versuchen, die Ankündigungen des „Terrorbombers“ zu entschlüsseln. Und sie suchen Frisell als Hauptverdächtigen. Als sie ihn schliesslich haben und die Anschläge weitergehen, wird immer stärker vermutet, dass jemand dem unschuldigen Frisell diese Anschläge anhängen will. Die Ermittler müssen weitere Anschläge möglichst verhindern und den wahren Täter finden. Auf die Jagd nach diesem macht sich auch Frisell selbst, nachdem er die Polizisten ausgetrickst hat.

Das ist alles geschickt aufgebaut und spannend erzählt, leicht lesbar in 108 kurze Kapitel aufgeteilt. Es gibt etwas Humor, und ab und zu blitzt leise Ironie auf. Und alles ist auf den aktuellen Zeitgeist ausgerichtet: Das Team wird von einer Frau geleitet, einer der Ermittler ist in der Kindheit als Flüchtling aus Afghanistan nach Schweden gekommen, die geschiedene Kollegin hat mit neuem Selbstbewusstsein zu daten begonnen. Dann natürlich Umwelt und Klima als zentrales Thema. Auch wenn sich dieses letztlich als Vorwand für einen äusserst aufwändigen und komplexen Rachefeldzug erweist.

Womit wir bei den Problemen sind, die ich mit diesem Buch habe. Ich bin keineswegs der Meinung, dass Kriminalliteratur nur die Wirklichkeit abbilden soll oder darf. Aber ich finde all diese Thriller, in denen abstruse und komplett unrealistische Verbrechen für Originalität und Spannung sorgen sollen, meist ziemlich langweilig, da diese Taten und die Täter mir in der Regel einfach, pardon, am Arsch vorbeigehen. Beim neuen Dahl ist das zwar nicht so arg wie bei manch anderen aktuellen Büchern, aber es geht schon ein bisschen in diese Richtung. Der Racheakt ist in diesem Ausmass nicht nachvollziehbar. Wenig glaubwürdig ist auch das Personal des Romans. Alle Polizeibeamten sind extrem intelligent, im wahren Wortsinn unglaublich schlau. Das gilt auch für Frisell. Selbst die Täterschaft ist gescheit und kann alles, bewältigt die komplexen und teils technisch höchst anspruchsvollen Bombenangriffe absolut präzis.

Am Ende wartet Arne Dahl in „Stummer Schrei“ mit einem Cliffhanger auf, der wohl den Appetit auf den nächsten Band der Reihe wecken soll. Das ist jedoch so plump, dass mir der Appetit darauf vergeht.

Wertung: 2,5 / 5

Arne Dahl: Stummer Schrei
(Original: I cirkelns mitt. Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2023)
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Piper, München 2024. 458 Seiten, 17 Euro/ca. 24 Franken

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Bild: © Karl Nordlund / Piper Verlag

Arne Dahl

ist das Pseudonym von Jan Lennart Arnald, geboren 1963 in Sollentuna, einem Vorort von Stockholm. Er studierte in Stockholm und promovierte in Literaturwissenschaften. Er arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und war Herausgeber von zwei Literaturzeitschriften.

Seinen ersten Roman über eine Reise nach Griechenland veröffentlichte er als Jan Arnald 1990, danach folgte ein Gedichtband. Mit dem ersten Kriminalroman „Ont blod“ (Deutsch: „Böses Blut“, 2004) gelang ihm 1998 der Durchbruch. Es war der zweite Band – der wirklich erste erschien erst im Jahr danach – der Reihe um die A-Gruppe, eine Sondereinheit der schwedischen Polizei. Bis 2007 erschienen zehn Bände sowie 2008 ein eigenständiger Roman mit Figuren aus der Serie. An die A-Gruppe-Reihe schloss die Obcop-Reihe mit vier Bänden von 2011 bis 2014, in welcher Figuren der A-Gruppe für Europol arbeiten. Von 2016 bis 2021 folgte die Sam-Berger- und Molly-Blom-Reihe mit fünf Titeln. „Stummer Schrei“ ist jetzt der erste Band einer neuen Reihe mit Eva Nyman und ihr NOVA-Team, eine „Sondereinheit für aussergewöhnliche Verbrechen“. Dahls Romane sind Bestseller und erscheinen in verschiedenen Sprachen, auf Deutsch im Münchner Piper Verlag.

Jan Lennart Arnald hat zwei Töchter. Er lebt mit seiner Familie in Stockholm. Seine Krimis schreibt er in den Schären vor Stockholm.


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