Seltsame Todesfälle in Japan
Die ersten Sätze
Die Psychologin Tomiko Hagio hängte ein Bild an die Tafel im Hörsaal, deutete darauf und erklärte: »Heutzutage halte ich Vorlesungen vor Studierenden, so wie jetzt hier vor Ihnen, aber früher habe ich als Psychologische Beraterin vielen Menschen mit meinem Rat zur Seite gestanden. Sie sehen hier die Kopie eines Bildes, das ein Mädchen, damals eine meiner ersten Klientinnen, gezeichnet hat. Nennen wir das Mädchen einfach einmal Ako. Im Alter von elf Jahren ermordete es seine Mutter und wurde daher von der Polizei in Gewahrsam genommen.«
Krimi der Woche ∙ N° 16/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Am Anfang steht eine Kinderzeichnung, die von einer Psychologin analysiert wird. Das Bild hat vor vielen Jahren ein Mädchen gezeichnet, das als Elfjährige seine Mutter ermordet hatte.
Die Kombination von Bildern oder anderen grafischen Elementen mit dem Text sind sozusagen das Markenzeichen des japanischen Autors und YouTubers, der sich Uketsu nennt und nur maskiert auftritt; sein wirklicher Name ist nicht bekannt. „Hen na E – Seltsame Bilder“ ist sein zweiter Roman und der erste, der weltweit erscheint, nachdem seine Bücher in Japan Millionenbestseller geworden sind.
Fast wäre mir dieser Roman entgangen. Denn im Newsletter der Berliner Krimibuchhandlung Hammett, deren Webseite sonst zuverlässig über Krimineuerscheinungen informiert, habe ich darüber gelesen: „"Rätselhafte Bilder" [!] ist die Buchform eines Logikrätsels. Es besteht aus fünf miteinander verbundenen Kurzgeschichten, in denen Leser*innen mithilfe von Bildern und logischen Hinweisen verschiedene Rätsel rund um eine Familie analysieren und lösen können.“ Krimis als Rätselspiele interessieren mich nicht, weshalb das Buch nicht auf meinem Lesestapel landete. Dank dem Hinweis einer Kollegin aus dem Kreis der Krimibestenliste-Jury nahm ich das Buch dann doch in die Hand und stellte fest, dass „Logikrätsel“ und dass man da „verschiedene Rätsel (…) lösen“ könne, völliger Quatsch ist.
„Seltsame Bilder“ ist zwar teilweise durchaus ein „Whodunit“, aber nicht im Sinne, dass die Leserschaft dank verschiedener Hinweise einen Fall „lösen“ könnte. Es ist eine recht komplexe Geschichte, die Uketsu da erzählt, sie ist zudem düster und mehr Noir als Vergnügungskrimi. Die Handlungsstränge der einzelnen Kapitel, die anfänglich ein bisschen wie unzusammenhängende Geschichten mit neuen Protagonist:innen wirken, werden nach und nach zusammengeführt und offenbaren menschliche Abgründe. Im Prinzip geht es um eine ganze Reihe von Morden über eine längere Zeit, die, wie sich zeigen wird, alle miteinander zusammenhängen – ohne dass es aber eine Serienkillerstory wäre. Hinter der Mordgeschichte steckt eine ganze Reihe gesellschaftlicher Themen, deren öffentliche Behandlung in Japan nicht unbedingt alltäglich ist. Dazu gehören Kindsmissbrauch, sexuelle Gewalt, prekäre Familienverhältnisse, Traumata und Suizid. Nebenbei geht es auch um die Herausforderungen der Mutterschaft, um toxische Männlichkeit und um die Probleme junger Menschen, die keinen ihrer Ausbildung entsprechenden Job finden.
Die verschiedenen Zeichnungen sind nicht einfach illustrativ, sondern Elemente, die in der Geschichte inhaltlich eine Rolle spielen. Andere grafische Elemente wirken nicht zwingend, fassen teils lediglich einzelne Fakten, beispielsweise Zeitabläufe, zusammen. Die Sprache wirkt zunächst simpel, doch sie ist letztlich einfach sehr nüchtern und akkurat beschreibend – die Ereignisse wirken ohne spektakuläre Schilderung schrecklich genug. Ein literarisches Highlight ist „Hen na E – Seltsame Bilder“ zwar nicht, aber die aussergewöhnliche Form hat ihren Reiz, und die vielschichtige Geschichte fasziniert im Verlauf zunehmend.
Wertung: 3,5 / 5
Uketsu: Hen na E – Seltsame Bilder
(Original: 変な絵 [Hen-na E]. Futubasha, Tokio 2022)
Aus dem Japanischen von Heike Patzschke
Lübbe, Köln 2025. 271 Seiten, 24 Euro/ca. 34 Franken
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Bild: ©Uketsu
Uketsu
ist der Künstlername eines japanischen YouTubers und Autors. Laut „The Japan Times“ handelt es sich um einen Mann, der aus der Präfektur Kanagawa stammt, die Teil des Ballungsraums Tokio ist. Er soll Wirtschaftswissenschaften studiert haben und ein grosser Fan von Kaninchen sein. Sein genaues Alter wollte er bei einem Telefongespräch mit „The Japan Times“ nicht verraten, er sagte aber, er sei als Kind mit dem Internet aufgewachsen; das bedeute, dass er zur „Altersgruppe der späten bis mittleren Millennials“ gehöre. Nach dem Abschluss des Studiums habe er in der Manga- oder Musikbranchen arbeiten wollen, was nicht geklappt habe. 2018 begann er für eine Unterhaltungswebsite namens „Omokoro“ zu schreiben.
Auf seinem YouTube-Kanal, der 1,74 Millionen Follower hat, präsentiert er Horror- und Krimi-Videos sowie eigene Musik. Er tritt in seinen Videos und bei seltenen öffentlichen Auftritten immer mit einer weissen Pappmaché-Maske auf und ist ganz in Schwarz gekleidet, auch mit einem schwarzen Strumpf über den Haaren und schwarzen Handschuhen. Er benutzt einen Stimmwandler, der seine tiefe Stimme in ein hohes Falsett verwandelt.
2021 veröffentlichte er seinen ersten Roman, der Ende Oktober 2025 unter dem Titel „Hen na ie – Das seltsame Haus“ auch auf Deutsch erscheinen wird. Der Roman wurde ein Millionenbestseller und erfolgreich verfilmt. Damit und mit dem zweiten Roman, der jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Hen na E – Seltsame Bilder“ vorliegt, wurde er in Japan zum erfolgreichsten Vertreter des sogenannte „Sketch Mystery“-Romans. Die Romane erscheinen jetzt weltweit.