Retter und Räuber
Der erste Satz
„Wir wissen, dass du’n Cop bist“, sagte Matt.
Krimi der Woche ∙ N° 18/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
„Engine 99“ ist eine etwas besondere Truppe der New Yorker Feuerwehr. Nachdem ein Kollege einen Einsatz nicht überlebt hat, sind sie momentan nur noch zu viert unterwegs. Alle sind irgendwie versehrt, hadern mit ihrem Dasein. Matt, der Chef, hat beim 9/11-Einsatz sein ganzes Team in den Trümmern des Wolkenkratzers verloren, der gerade einstürzte, während er selbst eine Frau aus dem Gebäude brachte. Ben ist mit Junkie-Eltern aufgewachsen und sehnt sich nach einer richtigen Familie. Ein anderer im Team ist spielsüchtig und chronisch pleite. Matt hat zwar eine ganzes Rudel Kinder aus früheren Ehen und ist zum vierten Mal verheiratet und wieder einmal werdender Vater, doch die anderen im 99er Trupp haben nicht viel zu verlieren. Gemeinsam nutzen sie ihren Job für skrupellose Raubzüge aus. Sie legen schon mal selbst Brände, um lukrative Einbrüche zu tarnen, etwa um bei einem benachbarten Juwelier einzusteigen. Oder sie sorgen für eine Gasexplosion, um an ein Schliessfach zu kommen.
Sie sind eine verschworene Truppe. Bis Bens Freundin und deren Sohn spurlos verschwinden. Und Ben argwöhnt, dass seine Kollegen damit zu tun haben, sie womöglich getötet haben. Da er nicht herausfindet, was passiert ist, schildert er in einem Brief einem ausgesuchten Detective die Situation. Doch der Cop meldet sich nicht, und es passiert während Wochen nichts. Bis ihn eines Tages in einer Kneipe eine Frau anspricht. Sie nennt sich Andy, Andrea Nearland, und stellt sich als freie Undercover-Ermittlerin vor, die vom FBI mit dem Fall von Bens Freundin beauftragt ist – und mit den Raubzügen von „Engine 99“ und dem Mord an einem Polizisten, der den Feuerwehrmännern vermutlich zufällig in die Quere gekommen ist. Wenig später taucht Andy auf der Feuerwache auf – als neues Mitglied im 99er Team. Ben ist entsetzt, seine Kumpel sind irritiert.
Ben und vor allem Andy sind die Hauptfiguren in „Devil’s Kitchen“, dem neuen Thriller der australischen Autorin Candice Fox, die uns seit ihrer „Hades“-Trilogie in nur gut zehn Jahren mit einer ganzen Reihe speziellen Charakteren und höchst originellen Geschichten hervorragend zu unterhalten versteht.
Andy zwingt Ben dazu, den Kollegen eine Liebesbeziehung mit ihr vorzuspielen. Auf seine Frage, warum sie tue was sie tut, sagt sie: „Um Vermisste zu finden. Um Verbrecher zu fangen.“ Durch Rückblenden erfahren wir, wie sie ihre Familie verloren hatte und mit jahrelangen eigenen Ermittlungen die Täter schliesslich stellen konnte. Was einen FBI-Mann so beeindruckte, dass er sie für Undercover-Missionen ausbildete. Mit Ben spürt sie eine Art Seelenverwandtschaft, und sie glaubt nicht, dass er wirklich böse ist. Der Räuber erweist sich auch als engagierter Retter: „Ben war darauf geeicht, Menschen zu retten, weil er sich auf diese Weise einbilden konnte, dass auch ihn jemand aus dem gewalttätigen Crackhaus gerettet hätte, in dem er aufwachsen musste.“
Die raffiniert geplottete Geschichte um Andy und Ben und die räuberische Feuerwehrtruppe entwickelt sich rasant und actionreich, ist hart und zuweilen ziemlich brutal, hat aber auch zarte und leicht melancholische Momente. Gekonnte Unterhaltung, die nie seicht ist und Krimiklischees meidet.
„Devil’s Kitchen“ ist der vierte Standalone-Krimi der Australierin Fox, der in den USA spielt. Nach getaner Arbeit in New York, die sie mit ein paar Versehrungen mehr übersteht, macht sich Dahlia, wie Andy wirklich heisst, im tiefen Süden der USA auf die Suche nach einem verschwundenen Kind. Candice Fox lässt sich hier die Möglichkeit offen, es nicht bei einem einzigen Roman bleiben zu lassen. Die aussergewöhnliche Undercover-Ermittlerin hat durchaus das Potenzial für eine Serienheldin. Zunächst besinnt sich die Autorin jedoch auf ihre Heimat: In Australien ist inzwischen der im Outback spielende Roman „High Wire“ erschienen.
Wertung: 4,1 / 5
Candice Fox: Devils’s Kitchen
(Original: Devils’s Kitchen. Bantam Australia, Sydney 2024)
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Suhrkamp, Berlin 2025. 432 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken
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Bild: candicefox.org
Candice Fox,
geboren 1985 in Bankstown, einer Vorstadt von Sydney in Australien, wuchs bei Pflegeeltern in einer eher exzentrischen Grossfamilie mit „Halb-, Adoptiv- und Pseudogeschwistern“ auf. Schon als Teenager begann sie zu schreiben. Zwischen Schule und Studium war sie kurz in der Royal Australian Navy. Sie studierte an der University of Notre Dame, der University of Sunshine Coast und der University of Queensland. Nach dem Studium gab sie Literaturkurse an der University of Notre Dame Australia in Sydney.
Bevor ihr erster Roman von einem Verlag angenommen wurde, habe sie rund 200 Absagen erhalten, erzählte sie in Interviews. „Hades“, der erste Band einer schrägen Trilogie um ein Geschwisterpaar, das bei der Polizei arbeitet, daneben aber auf eigene Faust Verbrecher abserviert, die sich der Justiz entziehen können, erschien 2014 und wurde mit dem bedeutenden Ned Kelly Award für das beste australische Krimidebüt ausgezeichnet, der Folgeroman „Eden“ mit dem Award für den besten Roman des Jahres. Die drei Romane – „Hades“, „Eden“, „Fall“ – sind unter den Originaltiteln auf Deutsch erschienen (Suhrkamp), ebenso die dreiteilige Crimson-Lake-Serie mit dem unkonventionellen Ermittlerduo Ted Conkaffey und Amanda Pharrell: „Crimson Lake“, „Redemption Point“ und „Missing Boy“. Es folgten die Standalones „Dark“ (2020), „606“ (2022), „Stunde um Stunde“ (2023) und „Devil’s Kitchen“ (2024). In Australien erschien 2024 zudem der Roman „High Wire“, der nach ihren Abstechern in die USA wieder in Australien spielt. Fox hat zudem zwischendurch etwa ein halbes Dutzend Romane als Co-Autorin des amerikanischen Bestsellerproduzenten James Patterson, der mit einer ganzen Reihe von Autoren zusammenarbeitet, geschrieben. Die „Crimson Lake“-Reihe wurde in Australien unter dem Titel „Troppo“ als TV-Serie verfilmt; bisher gibt es zwei Staffeln.
Candice Fox beschreibt sich als „Handwerkerin, Tierliebhaberin und Weintrinkerin“. Zudem malt sie leidenschaftlich, und sie näht, strickt, häkelt und töpfert auch. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Sydney.