Zwei Frauen auf der Flucht
Der erste Satz
Ich war eine berühmte Mörderin.
Krimi der Woche ∙ N° 19/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Evie Gordon war eine Schülerin mit Bestnoten, erhielt ein Stipendium für ein renommiertes College, schloss brillant ab. Doch jetzt ist sie etwas frustriert, weil das alles nicht zu einem guten Job führte. Als Nachhilfelehrerin für reiche Kids in Los Angeles schlägt sie sich durchs Leben, als SAT-Tutor, um genau zu sein – sie bereitet die Kinder wohlhabender Eltern auf die College-Aufnahmeprüfung vor. Sie erwägt, ein weiteres Studium anzugehen.
Doch dann wird von einem Tag auf den anderen alles in ihrem Leben ganz anders. Als sie an einem Sonntagnachmittag ihre Schülerin Serena unterrichten will, steht die Tür zur Villa im Nobelviertel Los Feliz offen, doch es scheint niemand in der Nähe zu sein. Evie sieht sich um. Und findet im Garten die Leichen von Serenas Eltern. Die Mutter erschlagen, das Blut scheint noch feucht. Der Vater mit dem Kopf im Koi-Teich. Zurück im Haus, um die Polizei zu rufen, hört sie jemanden um Hilfe rufen. Und findet in einem Kämmerchen eine junge Frau, die an ein Rohr gefesselt ist. Sie befreit sie. Doch dann taucht Serena auf und geht mit einer Lampe auf Evie und die Frau los. Evie schlägt sie mit einer Vase nieder. Und ergreift mit der Frau aus dem Kämmerchen die Flucht.
Das Romandebüt „Killer Potential“ der amerikanischen Autorin Hannah Deitch beginnt rasant. Evie fürchtet, dass das Verbrechen an Serenas Eltern ihr angehängt wird. Und der Frau aus dem Kämmerchen, die zwar kein Wort spricht, aber die offenbar auch ein Opfer ist. Doch wohin nun? Evie kennt ein Haus in Florida, in dem sie sich verstecken könnten. Ihr Fluchtpartnerin erweist sich als bewandert im Knacken von Autos. Und sie weiss sich zu wehren gegen Angriffe. „Sollte ich ihr wirklich vertrauen?“, fragt sich Evie. „Vertraute sie mir? Hatten wir eine Wahl?“
Nach den beiden wird gefahndet, sie sind in allen Medien, in den Fernsehnachrichten. Vergleiche mit Charles Manson machen die Runde. Einzelne Politiker und der Mob fordern schon die Todesstrafe. „Wir waren gemein, wir waren widerwärtig, wir waren kaum noch menschlich. Jede Erwähnung der Morde erinnerte die Leser daran, dass wir nicht einfach irgendwelche Killer waren; wir waren Killerinnen. Unser Vergehen erhob uns automatisch ins Reich des Mythologischen. Wir waren Vertreterinnen eines mysteriösen, weiblichen Bösen. Schwarze Witwen, Femmes fatales, Hexen, Objekte der Abscheu, Objekte von Rachefantasien, Objekte einer perversen Erotik, Bonnie und Bonnie. Kein Clyde weit und breit.“
Die Flucht führt die beiden Frauen durchs ganze Land. Von Florida wollen die Frauen nach Kanada. Die mysteriöse Frau hat inzwischen zu sprechen begonnen und hat einen Namen: Jae Park. Die Geschichte wird zum Road-Movie, erinnert ein bisschen an „Thelma & Louise“. Unterwegs werden die beiden Frauen schon mal erkannt, und sie müssen rasch weiter. Oder sich zur Wehr setzen: „Gewalt simmert in uns allen. Um sie abzurufen, war nicht mehr nötig, als eine Tür aufzuziehen.“ Derweil entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen Evie und Jae.
Die Geschichte franst mit der Zeit ein bisschen aus. Die Autorin will vielleicht ein bisschen viel hineinpacken – etwas, das man bei Erstlingen immer wieder sieht. Doch der Plot vermag zu packen und nimmt uns mit auf einen wilden Trip. Und Deitch ist eine gute Erzählerin, sie versteht es, in wenigen Sätzen und präzisen Bildern ganze Universen verständlich zu machen. Zum Beispiel Evies College-Zeit: „Hier durften wir angstfrei Schwarz-Weiss-Filme sehen, schlechte Einakter schreiben und abstrakte Studiendarlehen anhäufen. Ein ganz besonderes College mit besonderen Studierenden, wir stellten uns gegenseitig in unseren besonderen Schuluniformen ganz besonders in den Schatten: mit Kampfstiefeln, Koksresten unter der Nase, ein Buch von Sylvia Plath in einem Beutel mit New-Yorker-Aufdruck über der Schulter, Taufnamen waren grundsätzlich verpönt, ebenso wie natürliche Haarfarben, wir führten schwul-lesbische Adaptionen von Fiddler on the Roof mit Marionetten auf, pflegten unsere psychischen Erkrankungen, zitierten beim Sex Foucault und hegten unsere Vater-Komplexe.“
Mit solchen rückblickenden Szenen und Erinnerungen wird die Figur Evie greifbar, ihr Verhalten und ihr Handeln bekommen eine nachvollziehbare Grundlage. Evie ist die Icherzählerin, bis dann gegen Ende, nachdem sich sie die beiden Frauen getrennt haben, zwischendurch auch Jae aus ihrer Sicht erzählt. Deitch würzt ihre spannende Geschichte mit Sarkasmus, Ironie und trockenem Humor. Neben dem Thriller-Plot ist „Killer Potential“ auch das stimmige Porträt einer jungen Frau, die trotz hervorragender Ausbildung mit ihrem Leben nicht wirklich zurechtkommt. Hannah Deitch ist auf jeden Fall eine Autorin, die man im Auge behalten sollte.
Wertung: 4 / 5
Hannah Deitch: Killer Potential
(Original: Killer Potential. William Morrow, New York 2025)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
List, Berlin 2025. 398 Seiten, 17,99 Euro/ca. 26 Franken
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Bild: Trisha Harrison/hannahdeitch.com
Hannah Deitch,
geboren 1992, ist in einer Kleinstadt in den Bergen in US-Bundesstaat Georgia aufgewachsen. Sie schloss die UC Irvine (University of California in Irivne), wo sie marxistische Theorie und zeitgenössische Popkultur studiert hatte, mit einem M.A. in Englisch ab. An der University of Southern California (USC) in Los Angeles schloss sie mit einem M.A. in Journalismus ab.
Sie war als SAT-Tutorin (SAT ist eine Aufnahmeprüfung für amerikanische Colleges) tätig, lebte als Autorin und Filmemacherin in New York, war Chefredakteurin des Kunst- und Kulturmagazins „Ampersand“ und schrieb unter anderem für „Los Angeles Times“, „LA Weekly“ und „Los Angeles Review of Books“.
„Killer Potential“ ist ihr erster Roman. Er wurde vom New Yorker Verlag William Morrow im Rahmen einer Auktion gekauft und erscheint nun in mehr als einem Dutzend Ländern.
Hannah Deitch lebt derzeit in Los Angeles.