Mit der Geschäftsmoral eines bankrotten Zirkus
Der erste Satz
Meine Suche in vier Städten nach Clinton Shartelle endete in Denver, wo er für die Kwikway Truckers auf einem sandigen Baseballfeld Ecke 29th und Champa Shortstop spielte.
Krimi der Woche ∙ N° 20/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
1967 ist der Roman „The Seersucker Whipsaw“ von Ross Thomas (1926–1995), dem auch heute noch interessantesten amerikanischen Meister des Politthrillers, im Original erschienen, 1984 in einer gekürzten Version auf Deutsch als „Urne oder Sarg, Sir?“. Unter dem Titel „Stimmenfang“ beschliesst dieses Werk nun in neuer und erstmals vollständiger Übersetzung (von Altmeister Gisbert Haefs) die Ross-Thomas-Werkausgabe im Alexander Verlag Berlin. 25 Romane hat Thomas, der nach einer Karriere als Journalist und Politberater erst mit 40 Schriftsteller wurde, geschrieben. Seine Bücher sind nicht nur scharfsinnig, sie bieten immer auch ein unterhaltsames Lesevergnügen.
In „Stimmenfang“ reisen der amerikanische Ex-Journalist und PR-Mann Peter Upshaw, der Icherzähler, und der gewiefte Politstratege Clinton Shartelle im Auftrag einer grossen PR-Firma, „die dank Charme, Genie, Überschwang und der Geschäftsmoral eines bankrotten Zirkus“ erfolgreich ist, nach Afrika. Im (fiktiven) westafrikanischen Staat Albertia ziehen die Briten ab und die ersten freien Wahlen stehen an. Shartelle und Upshaw sollen dem Wahlkampf von Chief Akomolo „ein bisschen amerikanisches Rambazamba“ einblasen. Drei Kandidaten stehen zur Wahl. Wie es aussieht, wird Akomolo zu wenig Stimmen haben. Shartelle will dies ändern. Upshaw soll ihn dabei unterstützen. Der antwortet auf Shartelles Frage, was für ein Schreiber er sei: „Ein schneller. Nicht gut, bloss schnell. Wenn ich nicht schreibe, kann ich die Bleistifte spitzen und die Drinks mixen.“
Die anderen beiden Kandidaten setzen ebenfalls auf Hilfe von internationalen Profis. Dem einen steht eine andere bekannte Agentur zu Seite, dem anderen eine unbekannte, hinter der sich offenbar die CIA versteckt. Shartelle ist klar, dass Akomolo auch nicht genug Stimmen macht, „wenn er ab sofort bis zum Wahltag jede Stunde eine Rede hält“. Mit fiesen Tricks will er die Gegner zu Fehlern provozieren. Chief Akomolo und seine Leute müssen davon nichts im Detail wissen: „Ihre Aufgabe ist es, draussen unter den Leuten den Wahlkampf zu führen. Wenn im Dreck gewühlt werden muss, dann ist das unser Job.“
Die Tricks des Duos funktionieren. Shartelle und Upshaw können auf der Karte an der Wand immer mehr Wahlbezirke mit dem Akomolo-Fähnchen markieren. Zudem verlieben sich die beiden Amerikaner. Upshaw in eine Lehrerin vom amerikanischen Friedenscorps, Shartelle in eine charmante französische Cognac-Händlerin. Es herrscht eitel Sonnenschein. Bis der lokale Polizeichef erschossen in der Auffahrt zum Haus der Amis liegt. Der Mord, der Rätsel aufgibt, wird sich als Vorbote von gröberen Auseinandersetzungen erweisen.
„Ich würde sagen, wir haben alles an Unfug angestellt, was wir anstellen können“, bilanziert Shartelle eines Tages. Jetzt sei Zeit zu feiern. „Man wartet nicht, bis man gewonnen hat, weil dann zu viele Leute einem auf den Rücken klopfen und einen fragen, ob man nicht einen Posten für ihren vierundzwanzigjährigen Neffen hätte, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und man feiert natürlich nicht, wenn man verloren hat, also schmeisst man seine Party, wenn man alles getan hat, was man tun konnte, und es so aussieht, als ob man es irgendwie schaffen könnte.“
Ross Thomas war als Journalist nicht nur in Europa, insbesondere in Deutschland, tätig, sondern auch in Nigeria. Das 1960 von Grossbritannien unabhängig gewordene Land lieferte ihm zweifellos mehr als lediglich die Inspiration für sein fiktives Albertia. Und Upshaw, der vom Journalismus zum Polit-PR-Berater wurde, dürfte mindestens zum Teil ein Alter Ego des Autors sein. Kein Wunder, konnte er das Funktionieren der Politik in dem afrikanischen Land kundig beschreiben. Und seinen Helden hinter einem Anflug von wildem Abenteurertum auch Authentizität verleihen.
Wertung: 4,2 / 5
Ross Thomas: Stimmenfang
(Original: The Seersucker Whipsaw. William Morrow, New York 1967;
gekürzte deutsche Erstausgabe: Urne oder Sarg, Sir?, Ullstein, 1984)
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
Alexander Verlag, Berlin 2025, 411 Seiten, 18 Euro/ca. 27 Franken
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Bild: Patricia Williams
Ross Thomas,
geboren 1926 in Oklahoma City, gestorben 1995 in Santa Monica, Kalifornien, war im Zweiten Weltkrieg als Soldat auf den Philippinen. Er arbeitete unter anderem als Journalist in den USA, in Deutschland und in Nigeria. In den 1950ern baute er in Bonn das Büro des amerikanischen Radiosenders AFN auf. Später war er PR- und Wahlkampfberater für Politiker wie Lyndon B. Johnson sowie Gewerkschaftssprecher.
Erst mit 40, nach jahrelangen intimen Einblicken in den Politbetrieb, begann er mit dem Schreiben von Politthrillern. Für seinen ersten Roman „The Cold War Swap“ („Kälter als der kalte Krieg“) wurde er 1967 mit dem Edgar Allen Poe Award für den besten Erstling ausgezeichnet; einen weiteren Edgar erhielt er 1985 für „Briarpatch“ („Dornbusch“). Von 1966 bis 1994 schrieb Thomas 25 Politthriller und Kriminalromane, darunter unter dem Pseudonym Oliver Bleeck fünf Romane um den Go-Between Philip St. Ives. Ab 1982 schrieb er auch Drehbücher für TV-Serien.
Alle Romane von Ross Thomas, die ursprünglich auf Deutsch oft nur stark gekürzt herausgegeben worden sind, sind seit 2005 im Berliner Alexander Verlag in einer originalgetreuen deutschen Werkausgabe erschienen. Mit dem 25. Band „Stimmenfang“ wird diese verdienstvolle Werkausgabe abgeschlossen.
Von 1975 bis zu seinem Tod als Folge von Lungenkrebs zwei Monate vor seinem 70. Geburtstag lebte Ross Thomas mit seiner zweiten Frau im Strandort Malibu bei Los Angeles.