Wenn Opfer zu Täterinnen werden

Der erste Satz
Liebe Mama,
als Allererstes möchte ich dir sagen, dass ich dich unendlich lieb habe und du nicht schuld bist.

Krimi der Woche ∙ N° 28/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eine neue Protestbewegung beunruhigt in Deutschland die Behörden. Die sich über die Sozialen Medien lose unter dem Namen Influenzas organisierende Gruppierung junger Frauen protestiert gegen Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen. Die Aktionen der neuen Bewegung werden rasch aggressiver, als man es etwa von der Klimajugend kennt. Vor allem eine Splittergruppe in München scheint auch vor potenziell tödlichen Folgen nicht zurückzuschrecken. Um Einblick in diese Gruppierungen zu bekommen und Drahtzieherinnen zu identifizieren, schleust die Polizei eine verdeckte Ermittlerin in das Jugendamt ein: die Berlinerin Obalski.

Obalski, kein Vorname, selbst ihr Neffe nennt sie nur Obi, ist die Ermittlerin im ersten Roman der Journalistin und Sachbuchautorin Susanne Kaiser, deren Spezialgebiet die „Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen in muslimischen und in westlichen Gesellschaften“ sind. „Ein Fall für Obalski“ steht auf dem Umschlag von „Riot Girl“; der Kriminalroman ist der Auftakt einer Serie.

Mit Obalski hat Kaiser eine interessante Protagonistin geschaffen. Die „Sondereinheit Doppel-X in Bayern“ wollte sie, „weil ihr Know-how aus Gender Studies, Forensik und psychologischem Profiling eine einzigartige Kombination ist: Menschen und ihre Verhaltensweisen lesen, Spuren am lebendigen Körper deuten und dahinter die ganze Geschichte erkennen, zielsicher auf die sozialen Beziehungen und die psychischen Abgründe schließen.“

Während sich die Ermittlerin aus Berlin an für sie teil fast etwas exotisch anmutende bayerische Eigenheiten zu gewöhnen beginnt, wird sie bei der Arbeit mit dramatischen Ereignissen und Erkenntnissen konfrontiert. Und mit Zweifeln an ihrer Aufgabe. Denn sie beginnt, die Beweggründe der von den Polizeibehörden als möglichweise terroristische Gefahr engeschätzten Bewegung mehr und mehr zu verstehen. Die Aktionen der Münchner Gruppe richten sich nicht einfach allgemein gegen sexuelle Gewalt, sondern gegen ganz konkrete Taten: Machtbesessene Männer filmen, wie sie Teenagerinnen quälen und misshandeln und teilen die Aufnahmen mit Gleichgesinnten. Um die Polizei zum Handeln zu zwingen, zählen die jungen Frauen online einen zehntägigen Countdown an, der mit einer spektakulären Aktion enden soll.

Geschickt lässt Kaiser ihre Ermittlerin auf dem schmalen Grat zwischen der Verfolgung von Straftaten und der Empathie für die Täterinnen, die ja eigentlich die Opfer sind, balancieren. Damit sich die Teenagerinnen nicht womöglich selbst etwas antun, muss Obalski rechtzeitig den klandestinen Männerklüngel ausfindig machen.

„Riot Girl“ bindet brennende Themen und die heutige digitale Welt in eine spannende, raffiniert geplottete Geschichte ein. Diese lebt insbesondere von der überzeugend gezeichneten, facettenreichen Ermittlerin Obalski, aus deren Perspektive die ganze Story erzählt ist. Auf mehr mit ihr kann man sich freuen.

Wertung: 4,1 / 5

Susanne Kaiser: Riot Girl
Wunderlich/Rowohlt, Hamburg 2025. 413 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: Jonas Ruhs Photography

Susanne Kaiser,

geboren 1980 in Berlin, studierte Romanistik und promovierte 2014 an der Freien Universität Berlin über das postkoloniale Nordafrika. Nach einigen Jahren in der Wissenschaft, unter anderem an der UC Berkeley und an der Sapienza-Universität in Rom, ist sie seit 2014 als freie Journalistin, unter anderem für „Die Zeit“, „Der Spiegel“ und Deutschlandfunkt Kultur sowie als Buchautorin tätig. Sie beschäftigt sich insbesondere mit Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen in muslimischen und in westlichen Gesellschaften.

2018 veröffentlichte sie das Sachbuch „Die neuen Muslime“ (Promedia, Wien) über zum Islam konvertierte junge Menschen. 2020 folgte „Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen“ (Suhrkamp), 2023 folgte „Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen“ (Tropen Verlag). Der Kriminalroman „Riot Girl“ ist nun ihr erstes belletristisches Buch.

Susanne Kaiser lebt mit ihrer Familie in München.


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