Tödliche Begegnung
Der erste Satz
Ich möchte euch von der schlimmsten Sache erzählen, die mir jemals passiert ist.
Krimi der Woche ∙ N° 31/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Nach der Arbeit war Will mit ein paar Kollegen aus der Werbeagentur noch auf ein paar Biere in einem Pub. Auf dem Weg zum Bahnhof, um nach Hause zu fahren, kommt ihm in einer Gasse ein Mann schwankend entgegen, offenbar betrunken. Will weicht zur Seite aus, doch der Mann steuert auf ihn zu, rempelt ihn beim Vorübergehen an. Kaum ist er an ihm vorbei, hört Will ihn sagen: „Du Pussy.“ Will will zuerst darüber hinweggehen. Doch: „Das Wort brachte mich sofort auf die Palme. Es war gar nicht so sehr das Wort »Pussy«, sondern vielmehr die Art, wie er es gesagt hatte. Mit so viel Verachtung in der Stimme, das »P« völlig überbetont, damit es möglich scharf klang.“ Will geht auf dem Mann zu, und nach einem kurzen Disput ballt er die Faust und haut ihm eine rein. Er ist etwas überrascht, dass der Mann davon gleich auf die Strasse stürzt und geht weiter. Als er nichts mehr hört von dem Mann, blickt er zurück, sieht ihn bewegungslos da liegen. Er geht zurück und stellt fest, dass der Mann nicht mehr atmet, keinen Puls mehr hat. In der Gasse ist niemand sonst, niemand hat den Streit gesehen. Kameras sieht Will keine in der Gasse. Und er macht sich davon, nimmt an der nahen Station den Zug nach Hause.
Will ist der Icherzähler im Psychothriller „Ich war’s nicht“, dem Debüt des englischen Werbetexters und -strategen Royston Reeves. Will stellt sich als eigentlich netten Typen dar, dem eine Art dummer Unfall passiert ist, der sein Leben zerstören könnte. Er scheint ein Einzelgänger zu sein, Freunde hat er offenbar nicht, zu Verwandten hat er Distanz.
Für den Todesfall in der Gasse gibt es zunächst keinen Verdächtigen, Zeugen werden gesucht. Nach einigen Tagen taucht die Polizei in der Werbeagentur auf. Will war von Überwachungskameras, die in London allgegenwärtig sind, vor und nach der Gasse erfasst worden; die Polizei will in als Zeugen befragen. Er sagt, er habe nichts von dem Vorfall mitbekommen. Nach einiger Zeit erfährt er, dass ein Verdächtiger verhaftet worden sei. Er wird hin und her gerissen zwischen Erleichterung und schlechtem Gewissen. Als er schon glaubt, die Sache hinter sich lassen zu können, meldet sich jemand bei ihm, der in der Gasse wohnt und der ein Video von Wills Auseinandersetzung hat. Dieser Solly, wie er sich nennt, ist ein schmieriger Typ, der mit professionellem Equipment durch Fenster in der Nachbarschaft filmt. Zufällig hat eine seiner Kameras Wills „Unfall“ erfasst. Mit Will will er angeblich nur darüber reden. Die beiden treffen sich mehrmals, Solly übt mehr und mehr Druck aus auf Will. Und auch die Polizei kreuzt immer mal wieder bei ihm auf.
Die Geschichte ist geschickt geplottet und aus Wills Perspektive so erzählt, dass die alptraumhafte Bedrohung, die ihn zunehmend peinigt, spürbar wird. Dabei geht es auch um die Frage, was moralisch vertretbar und verkraftbar ist, wenn es um den Selbsterhalt geht. Das macht den Thriller nicht nur spannend, sondern gibt ihm auch eine gewisse Tiefe.
Wertung: 4 / 5
Royston Reeves: Ich war’s nicht
(Original: The Wheaterman. No Exit Press, London 2023)
Aus dem Englischen von Maria Poets
Scherz, Frankfurt am Main 2025. 315 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken
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Bild: Carly Cussen / A.M. Heath Literary Agency
Royston Reeves,
geboren 1984 in Essex, England, war jahrelang als Werbetexter und -stratege tätig und verantwortete mehrere preisgekrönte Kampagnen. Beim Fernsehsender ITV war er Kreativchef.
„The Weatherman“ (2023), jetzt unter dem Titel „Ich war’s nicht“ auf Deutsch erschienen, ist sein erster Roman.
Er lebt mit seiner Frau Caty und der Tochter Hunter-Rose auf dem Land in der südostenglischen Grafschaft Kent.