Alter Rassismus führt zu neuen Verbrechen

Der erste Satz
Ein Schuss.

Krimi der Woche ∙ N° 32/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger

Dreiundvierzig Jahre ist es her, seit Sara Paretsky ihre Privatdetektivin Vic (beziehungsweise V. I. für Victoria Iphigenia) zum ersten Mal durch die düsteren Strassen von Chicago schickte. Inzwischen liegt der zweiundzwanzigste Roman der Serie, „Pay Dirt“ aus dem Jahr 2024, unter dem Titel „Wunder Punkt“ auf Deutsch vor. Mit ihrem ersten Kriminalroman „Indemnity Only“ (Deutsch: „Schadenersatz“, 1986) gehörte Paretsky 1982 zu Pionierinnen der Krimis mit Privatdetektivinnen. Denn bis Anfang der 1980er war diese ikonische Figur der Literatur praktisch ausschliesslich männlich.

Schon seit bald hundert Jahren gehören Privatdetektive zum Personal der hard-boiled Kriminalliteratur. In diesem Jahrhundert mag ihre Präsenz zwar etwas abgenommen haben, doch es gibt sie immer noch. Von der Krimileserschaft – weiblich wie männlich – wurde und wird diese Figur vor allem geschätzt, weil sie oft den Gegenpart zu den offiziellen Ermittlern und damit quasi der Staatsmacht bildet. Auch wenn sie Auftraggebern mit gewissen Interessen verpflichtet sind, blicken private Ermittler meist unabhängiger auf Verbrechen – und auch auf die Welt an sich –, greifen oft auf unkonventionelle Methoden zurück, wie sie die Polizei nicht nutzen kann beziehungsweise darf.

Dashiell Hammett führte diese Figur Ende der 1920er Jahre ein und begründete mit „Red Harvest“ (1929; „Rote Ernte“) die moderne Kriminalliteratur. Raymond Chandler, der 1939 den ersten Roman mit Philip Marlow veröffentlichte, definierte die Figur später im Essay „The Simple Art of Murder“ (1950) so: Down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor – by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world. Es geht um Männer, und die wurden und werden auch als tough guy detectives bezeichnet, von tough gal detectives war damals keine Rede. Unzählige Autoren – darunter beispielsweise Mickey Spillane, Ross Macdonald, Joe Gores, Robert B. Parker, Loren D. Estleman, Stuart M. Kaminsky, Lawrence Block, James Crumley, Walter Mosley, Dennis Lehane, Robert Crais – spielten über Jahrzehnte mehr oder weniger originell und virtuos mit dieser Figur.

Vereinzelt gab es weibliche Detektive, etwa Cordelia Gray, die 1972 von der britischen Autorin P. D. James geschaffen wurde. Aber erst zu Beginn der 1980er betraten mit Anna Lee (1980) der englischen Autorin Liza Cody, mit Kinsey Millhone (1982) von US-Autorin Sue Grafton und eben Paretskys V. I. Warshawski (1982) Frauen die bislang männlichen Detektiven vorbehaltenen mean streets. Und bewiesen sich da als so tough wie die guys. Mit einigem Erfolg auf dem Buchmarkt, auch wenn sich manche Privatdetektivinnen abgesehen vom Geschlecht nur wenig von ihren männlichen Kollegen unterschieden.

Warshawski prügelt sich auch nach vier Jahrzehnten noch mit Bösewichten, klettert durch Fenster und gibt in einem einsamen Wäldchen die Zielscheibe für Schüsse. Im neuen Roman „Wunder Punkt“ kämpft sie nach einem brutalen Mord, den sie knapp nicht verhindern konnte, mit ihren Dämonen und findet kaum zurück in den Alltag. Um sie abzulenken, überredet die junge Freundin Bernie sie, eine Gruppe von befreundeten Studentinnen nach Lawrence in Kansas zu begleiten, wo eine von ihnen ein wichtiges Basketballspiel bestreitet. Am Tag nach dem erfolgreichen Spiel fehlt eine der Studentinnen für die Rückreise. Bernie nötigt die Privatdetektivin, die junge Frau zu suchen.

Warshawski findet die Studentin bald, allerdings halb tot in einer Drogenhöhle. Wo sie danach auch noch eine Leiche findet. Von der lokalen Polizei verdächtigt und von Unbekannten verfolgt, steckt sie sogleich mitten in lokalen Querelen, deren Ursachen tief in der Geschichte der Stadt Lawrence und des Bundesstaates Kansas liegen.

In Lawrence ist Sara Paretsky, die schon seit Jahrzehnten in Chicago lebt, aufgewachsen und an die Uni gegangen. „Ich wuchs unbeleckt von dem Wissen auf, dass Lawrence bis weit ins 20. Jahrhundert segregiert war, dass Schwarze Studierende nicht in die Wohnheime der University of Kansas durften, wo mein Vater lehrte, dass es Immobilienabsprachen gab, die regelten, wo Schwarze, Indigene und jüdische Menschen Häuser besitzen durften“, schreibt Paretsky in ihren Anmerkungen zum Roman. Im Unrecht, das damals geschah, liegt der Ursprung der aktuellen Verbrechen, deren Aufklärung ihre Heldin fast nicht überlebt.

Wertung: 4 / 5

Sara Paretsky: Wunder Punkt
(Original: Pay Dirt. William Morrow, New York 2024)
Aus dem Englischen von Else Laudan
Ariadne / Argument Verlag, Hamburg 2025. 500 Seiten, 25 Euro/ca. 36 Franken

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Bild: PD

Sara Paretsky,

geboren 1947 in Ames, Iowa, wuchs im US-Bundesstaat Kansas auf. Sie studierte Politikwissenschaften an der University of Kansas in Lawrence und arbeitete als Sozialarbeiterin. Später nahm sie das Studium wieder auf und promovierte 1977 an der University of Chicago mit der Dissertation „The Breakdown of Moral Philosophy in New England Before the Civil War“ in Geschichte und schloss zudem mit einem MBA in Ökonomie ab. Während zehn Jahren arbeitete sie als Marketing Manager für eine Versicherungsgesellschaft in Chicago.

Schon als Kind wollte sie Schriftstellerin werden, doch sie begann erst mit Mitte Dreissig zu schreiben. 1982 veröffentlichte sie ihren ersten Krimi mit der Privatdetektivin V. I. Warshawski. Die Serie umfasst inzwischen 22 Bände. Auf Deutsch erschienen die ersten zehn Titel von 1986 bis 2002 im Piper Verlag, die nächsten beiden bei Goldmann (2004 und 2007), der dreizehnte bei DuMont (2011). Nachdem die grossen Verlage das Interesse an Paretsky verloren hatten, konnte die Verlegerin Else Laudan ab 2018 die von ihr sehr verehrte Autorin für ihr Ariadne-Programm im Hamburger Argument-Verlag gewinnen; Laudan übersetzt die Romane auch selbst. „Wunder Punkt“ ist nun der sechste Kriminalroman von Sara Paretsky bei Ariadne.

Paretsky zählte 1986 zu den Gründerinnen von Sisters in Crime, einem internationalen Netzwerk, das Krimis von Frauen fördert. Die Organisation hat gegen 5000 Mitglieder in mehr als 60 Chapters in aller Welt. 1996 wurde auch ein deutschsprachiger Ableger gegründet, der sich 2007 von der amerikanischen Organisation löste und seither unter dem Namen Mörderische Schwestern – Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autorinnen selbständig tätig ist.

Paretsky heiratete 1976 den Physiker Courtenay Wright, mit dem sie schon seit 1970 zusammen war. Das Paar hatte drei Kinder. Wright starb 2018, einen Monat nach seinem 95. Geburtstag. Sara Paretsky lebt in Chicagos Stadtteil South Side.


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