Hier gibt es keine Unschuldigen
Der erste Satz
Am Nachmittag, als Hannas Mutter starb, verkroch sich das Haus frühzeitig in die Dämmerung..
Krimi der Woche ∙ N° 44/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Eine fulminante Mischung aus Gangsterepos, Kriminalroman und Politthriller war das 2024 auf Deutsch erschienene Werk „Maror“ von Lavie Tidhar. In „Adama“ setzt der aus Israel stammende Autor, der vor allem mit seinen Science-Fiction- und Fantasy-Büchern ein Star geworden ist (nicht im deutschen Sprachraum, wo vor „Maror“ nichts von ihm erschienen ist), seine Geschichte der Entstehung Israels in Form einer Mischung aus Familiendrama, Politthriller und Kriminalroman fort.
Hier geht er noch weiter zurück als im Vorgänger: bis zum entbehrungsreichen Aufbau der ersten Kibbuzim in den 1940er Jahren, zum Kriegsende in Deutschland, zur Flucht von Juden aus ganz Europa in das Land, aus dem dann Israel wird. Der Titel „Adama“, hebräisch für Erde, Erdboden, steht da metaphorisch für das Land auf dem Gebiet des damaligen Palästinas. „Es gibt kein A-d-a-m-a ohne d-a-m“, hatte ein Lehrer einer der Protagonistinnen stolz erklärt. „,Dam’ war Hebräisch und bedeutete Blut. Kein Land ohne Blut.“
Blut fliesst reichlich in „Adama“. Bei der Vertreibung von Palästinensern, in den Kriegen, bei denen Israel sein Territorium vergrössert. Aber auch sonst wird gemordet und gemartert in dieser komplexen Geschichte, die vor allem in einem Kibbuz spielt, aber auch Menschen hinaus aus der und hinein in die Gemeinschaft begleitet, die auf den Prinzipien des gemeinsamen Eigentums, der Gleichheit und der Selbstverwaltung basiert. Wobei die Menschen im Kibbuz offenbar doch nicht alle gleich sind. Für die in Israel geborenen selbst erklärten Tzabarim, „waren Holocaust-Überlebende gleichermaßen Opfer wie Verdächtige. Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Und warum hast nur du überlebt, während so viele andere starben? Manchmal hassten sie die Tzabarim wegen ihrer beiläufigen Brutalität. (…). Die Tzabarim waren nicht schwach wie alten europäischen Juden. Sie waren neu und hart und die Herrscher in diesem Land, diesem ,Adama’.“
Die zentrale Figur ist Ruth, eine Zionistin aus Ungarn, die ab 1946 führend beim Aufbau des Kibbuz Trashim ist. Sie gilt als die Seele der Gemeinschaft, als die Übermutter. Getrieben wird sie jedoch auch von Hass, wie sie sich Jahrzehnte später selbst eingestehen muss: „Erstaunt stellte sie fest, wie stark sie es vermisst hatte: Hass, so stark wie der schwärzeste Kaffee.“
Wie in „Maror“, wo der Fokus auf einem korrupten Polizisten lag, verbindet Tidhar in „Adama“ zahlreiche Geschichten und Episoden um eine Gruppe von Menschen in nicht chronologischer Folge zu einem erschütternden Gesamtbild. Dabei zeigt er, wie der sozialistisch geprägte Kollektivismus einerseits Individuen so einschränkt, dass sie den Ausbruch aus der Gemeinschaft wagen, anderseits Menschen dazu bringt, alles für den Kibbuz zu tun. „Was sein muss, muss sein“, sagt einer der Protagonisten lakonisch. „Hier gibt es keine Unschuldigen.“ Der Zweck heiligt die Mittel: Auch von kriminellen Handlungen von Drogenhandel bis Mord wird nicht zurückgeschreckt, um den Kibbuz am Leben zu erhalten.
In den mosaikartigen Geschichten wird die Entwicklung von Ruths Kibbuz über Jahrzehnte dargestellt. Kinder werden erwachsen, und die, die dann bleiben, übernehmen zusammen mit Zuzügern die wichtigen Aufgaben. Bei der Schilderung des Alltags im Kibbuz konnte der Autor auf seine eigenen Kindheitserfahrungen zurückgreifen: Lavie Tidhar ist selbst in einem Kibbuz aufgewachsen, den er aber schon als Teenager verliess. Im Roman geniesst einer, der den Kibbuz verlässt, die Ruhe in der Wüste am Sinai: „Eine unglaubliche Ruhe. Ganz anders als die Ruhe im Kibbuz. In der Stille des Kibbuz gab es immer jemanden, der lauschte.“
Wertung: 4,2 / 5
Lavie Tidhar: Adama
(Original: Adama. Head of Zeus, London 2023)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Suhrkamp, Berlin 2025. 425 Seiten, 22 Euro/ca. 32 Franken
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Bild: goodreads.com
Lavie Tidhar,
geboren 1976 in Dalia, einem Kibbuz im ländlichen Norden Israels, zog schon als Teenager mit 15 Jahren als Traveler hinaus in die Welt. Er lebte längere Zeit in Grossbritannien und in Südafrika, zeitweise auch in Laos und auf der Insel Vanuatu im Südpazifik.
Er veröffentliche zunächst Gedichte auf Hebräisch, bevor er begann, auf Englisch Kurzgeschichten vor allem im Bereich Science-Fiction und Fantasy zu schreiben, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 veröffentlichte er zusammen mit dem Autor und Musiker Nir Yaniv den düsteren Fantasy-Roman „The Tel Aviv Dossier“. 2010 bis 2012 erschien seine Bookman-Histories-Serie. Sein Roman „Osama“ wurde 2012 als bester Roman mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Seither hat er mehr als ein Dutzend weitere Romane veröffentlicht und wurde im Bereich Science-Fiction und Fantasy zum Star. Dennoch war sein Thriller „Maror“ (2022) 2024 sein erstes Werk, das auf Deutsch erschien. Mit „Adama“ schreibt er die Geschichte Israels in Form eines Politthrillers und Kriminalroman fort.
Seit 2013 lebt Lavie Tidhar mit seiner Frau in London.