Leise schleicht sich der Schrecken an
Der erste Satz
Am Sommerhimmel trieben ein paar flauschige Wolken träge dahin.
Krimi der Woche ∙ N° 52/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
„Das Wie war mir völlig egal. Hauptsache, ich brachte es schnell hinter mich. Schnell und sicher. Messer. Kopf auf Stein. Stein auf Kopf. Ich hatte mich sogar informiert, mit welchen Griffen man ein Genick brechen konnte.“ Schon auf der zweiten Seite, in einer Art Prolog, im Roman „Ein widerliches kleines Gefühl“ von Regina Nössler erfahren wir von der Protagonistin, dass sie jemanden loswerden will. „Diese Person war gerade im Begriff, mein Leben zu ruinieren.“
Nach diesem Einstieg lernen wir Evelyn Beckmann, nun nicht mehr als Ich-Erzählerin, sondern in der dritten Person, kennen. Sie scheint eigentlich eine ziemlich normale Person zu sein. Sie geht einer geregelten Arbeit nach, lebt in einer netten Wohnung in Berlin. Ihre Partnerin hat sie unlängst verlassen. Dass ihr das mehr ausmacht, als sie uns und sich selbst vormachen will, erfahren wir mit der Zeit. Doch Evelyns Hauptproblem, das ihr Leben „den Bach runter“ gehen lässt, ist Jennifer. Die Freundin aus der Hauptschulzeit, die sie Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat – und offenbar auch nie mehr sehen wollte –, steht eines Abends vor der Wohnungstüre, drängt sich uneingeladen rein.
In mit „Damals“ betitelten Zwischenkapiteln erzählen verschiedene Personen, die nicht benannt werden, von Ereignissen in der Schulzeit. Offenbar gibt es zwischen Evelyn, die damals noch Elli war, und Jennifer ein düsteres Geheimnis. Darin liegt wohl der Grund, weshalb Evelyn der unerwünschten Besucherin nicht einfach die Tür weist, nicht weisen kann. Sondern darüber sinniert, wie sie Jennifer loswerden kann. Endgültig loswerden.
Wie wir das von den früheren Romanen der deutschen Ausnahmeautorin kennen, weicht die vermeintliche Normalität schleichend, vordergründig ganz unspektakulär, dem sich nach und nach leise anschleichenden Schrecken. Im Alltag tun sich Abgründe auf. Wie Regina Nössler das macht, ist spektakulär, einmalig in der deutschsprachigen Kriminalliteratur.
Wertung: 4,4 / 5
Regina Nössler: Ein widerliches kleines Gefühl
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2025. 33 Seiten, 14 Euro/ca. 23 Franken
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Bild: Konkursbuch Verlag
Regina Nössler,
geboren 1964 in Altenhunden im Sauerland, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und studierte an der Ruhr-Universität in Bochum Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften.
Sie schrieb schon in der Jugend Lyrik, dann Kurzprosa und Erzählungen und schliesslich Romane. Ihr erster Roman „Strafe muss sein“ erschien 1994 im Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke in Tübingen, für den sie auch als Lektorin und Herausgeberin tätig ist. Inzwischen hat sie nebst Bänden mit Erzählungen und einem Kinderroman sechzehn Romane veröffentlicht. Für „Die Putzhilfe“ (2019) wurde sie mit dem zweiten Preis beim Deutschen Krimi-Preis ausgezeichnet.
„Sie ist eine genaue und amüsierte Beobachterin, die in der Komik immer das Schreckliche ahnt und umgekehrt“, heisst es in einem Autorenprofil des Literaturfests „Lange Leipziger Kriminacht“. „Ihren Lesern kommen die Figuren sehr nahe, selbst in den psychischen Abgründen weniger sympathischer Protagonisten lassen sich manchmal nur zu bekannte Eigenschaften entdecken, die so weit weg von einem selbst nie sind.“
Sie lebt sei 1995 in Berlin, wo sie seit 2002 freiberuflich als Autorin und Lektorin tätig ist.