Sklaven eines nutzlosen weissen Pulvers

Der erste Satz
An einem verhangenen Septembernachmittag des Jahres 1969 wurde Diakon Cuffy Lambkin von der Five Ends Baptist Church zu einem lebenden Toten.

Krimi der Woche ∙ N° 14/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Alle nennen ihn Sportcoat, dass er Cuffy Lambkin heisst, wissen nur wenige. Er ist ein alter afroamerikanischer Säufer in einer Sozialsiedlung in Brooklyn. Er kann mit Pflanzen. Und er ist ein hilfsbereiter Mensch, wenn auch, alkoholbedingt, nicht immer ganz zuverlässig. In der von schwarzen Zuwanderern aus den Südstaaten aufgebauten Five Ends Baptist Church wirkt er als Diakon. Und er trainiert die junge Baseballmannschaft.

Deems Clemens war die grosse Hoffnung der Mannschaft. Doch inzwischen hat sich der 19-Jährige aufs Drogendealen verlegt. Eines Tages tritt Sportcoat mit schwerer Schlagseite am heiterhellen Tag auf der Plaza des Viertels vor ihn, zückt eine alte Pistole und schiesst auf ihn. Da Deems gerade den Kopf wegdreht, verliert er durch den Schuss nur ein Ohr, erstickt dann aber fast am Sandwich, das ihm vor Schreck im Hals steckenbleibt. Sportcoat, immer hilfsbereit, befreit ihn mit einem harten Stoss von hinten von der Blockade in der Speiseröhre.

So beginnt der neue Roman von James McBride, der zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt. „Der heilige King Kong“ ist alles andere als ein konventioneller Krimi. Lustvoll fabulierend, verspielt und in oft heiterem, zuweilen aber auch durchaus scharfem Ton erzählt McBride von den Menschen in der Sozialsiedlung. Vor allem Afroamerikaner, aber auch Lateinamerikaner, haben da die Italiener mehr und mehr verdrängt. Die Gegend sei so sicher gewesen, „bevor die Farbigen kamen“, klagt ein Mafioso einmal. „Bevor die Drogen kamen“, korrigiert ihn ein italienischstämmiger Schmuggler, „nicht die Farbigen. Die Drogen sind’s.“

Die Geschichte spielt 1969. Es ist eine Zeit der Veränderungen. Und der Schuss auf der Plaza löst Vieles aus, bringt gefährliche Gangster ins Viertel. Die kleine Gemeinschaft um die Kirche, zu der Sportcoat gehört, versucht mit Lebensfreude und Hartnäckigkeit zerstörerischen Entwicklungen zu trotzen. „Alle in den Cause-Häusern lebten den New Yorker Traum, in Sichtweite der Freiheitsstatue, der gigantischen kupfernen Erinnerung daran, dass diese Stadt eine Schleifmaschine war, die Träume der Armen schlimmer zurichtete als jedes Baumwoll- oder Zuckerrohrfeld in der alten Heimat. Und jetzt machte das Heroin ihre Kinder erneut zu Sklaven, zu Sklaven eines nutzlosen weissen Pulvers.“

„Der heilige King Kong“ ist ein grossartig erzähltes, zartbitteres Meisterwerk. Ein weiterer Meilenstein im Werk des 63-jährigen Jazzsaxofonisten McBride, der sich vor über zwanzig Jahren mit seinem ersten Roman „Die Farbe von Wasser“ auf einen Schlag in der grossen Literatur etabliert hat.

Wertung: 4,5 / 5

James Mc Bride: Der heilige King Kong
(Original: Deacon King Kong. Riverhead Books, New York 2020)
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
btb Verlag, München 2021. 448 Seiten, 22 Euro/ca. 33 Franken

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Bild: Chia Messina

James McBride,

geboren 1957 in New York City als Sohn eines afroamerikanischen Pastors und einer polnisch-jüdischen Immigrantin, wuchs in der Sozialsiedlung Red Hook in Brooklyn auf. Er studierte Komposition am Oberlin Conservatory of Music in Ohio und Journalismus an der Columbia University in New York

Als Saxofonist tourte er mit Jazz-Grössen wie Jimmy Scott. Er schrieb Songs für Anita Baker, Grover Washington Jr. und andere. Er komponierte Musik für Jonathan Demmes Dokumentarfilm über New Orleans, „Right to Return“ (2007). Als Journalist schrieb er für Zeitungen und Magazine wie „The New York Times“ und „Rolling Stone“.

Mit seinem ersten Buch „The Color of Water: A Black Man’s Tribute to His White Mother“ wurde er 1995 weltbekannt. Der autobiografische Roman stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der „New York Times“ und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt (Deutsch: „Die Farbe von Wasser“, 1999). Sein zweiter Roman „Miracle at St. Anna“ (Deutsch: „Das Wunder von St. Anna“, 2004) über afroamerikanische US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg in Italien wurde 2008 von Spike Lee verfilmt. Für seine vierten Roman „The Good Lord Bird“ (Deutsch: „Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford“, 2015) wurde er 2013 mit dem National Book Award ausgezeichnet. „Deacon King Kong“ (2020) ist sein sechster Roman. 2016 veröffentlichte er zudem eine Biografie der Soul Legende James Brown, „Kill ’Em and Leave: Searching for James Brown and the American Soul“ (Deutsch: „Black and Proud – Auf der Suche nach James Brown und der Seele Amerikas“, 2017).

James McBride wurde sowohl für seine Musik wie für seine Literatur mehrfach ausgezeichnet. 2015 verlieh ihm US-Präsident Barack Obama die National Humanities Medal. Er hat drei Kinder mit seiner Ex-Frau und lebt in New York City sowie in der Kleinstadt Lambertsville in New Jersey.


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