Wenn Feigheit tödlich endet

Der erste Satz
Emily Vaughn blickte stirnrunzelnd in den Spiegel.

Krimi der Woche ∙ N° 39/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Andrea Oliver, die eben die US-Marshal-Ausbildung abgeschlossen hat, wird zum Schutz einer betagten Bundesrichterin, die Morddrohungen erhalten hat, in eine Kleinstadt in Delaware beordert. Ihr Onkel, ein einflussreicher Senator, hat dafür ein paar Strippen gezogen. Während sie die Richterin bewacht, soll sie herausfinden, wer vor vierzig Jahren Emily, die 18-jährige Tochter der Richterin, umgebracht hat. Denn zu den Verdächtigen zählte damals Andreas leiblicher Vater, ein übler Psychopath und Sektenführer, der im Gefängnis sitzt. Und bald freikommen soll. Was die Familie verhindern will, indem man ihm den alten Mord nachweist.

So komplex ist die Ausgangslage im neuen Thriller der amerikanischen Bestsellerautorin Karin Slaughter. Und ein paar weitere Verästelungen und Verwicklungen machen sie noch vielschichtiger. Dennoch ist „Die Vergessene“ eine spannende und unterhaltsame Lektüre.

Die Handlung wechselt zwischen der Jetztzeit mit Andrea und den frühen 1980er Jahre mit Emily hin und her. Und in beiden Teilen wird ermittelt. Emily wurde schwanger nach einer Vergewaltigung, die ihr im Drogenrausch angetan wurde und an die sie sich nicht erinnert. Sie wollte herausfinden, wer der Täter war. Es musste ein Gleichaltriger aus der Clique, mit der sie herumhing, gewesen sein. Oder ein Lehrer. Einer der Gleichaltrigen wurde später Andreas leiblicher Vater. Die anderen Tatverdächtigen, lernt Andrea nun vor Ort kennen. Und einer davon ist höchstwahrscheinlich Emilys Mörder.

Mindestens so sehr wie für die eigentliche Whodunit-Ebene interessiert sich die Autorin dafür, was Emily von Seiten der Gleichaltringen, der Schule und vor allem auch ihrer Familie widerfuhr, nachdem sie schwanger geworden war. Sie wurde von den Mitschülern geächtet, von den Lehrern der Schule verwiesen. Ihrer Mutter ging es nur darum, für die anstehende Ernennung zur Bundesrichterin durch den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, gut dazustehen. „Ich erdulde nicht die Konsequenzen meines Handelns“, warf Emily ihrer Mutter vor, „ich erdulde die Konsequenzen deiner Feigheit.“

Die politische Stimmungslage in den USA der frühen Achtziger und das Leben in der geistigen Enge einer Kleinstadt bilden den Hintergrund der dramatischen Geschichte. Diese dreht sich neben dem Fall von Emily und den aktuellen Drohungen gegen die Richterin auch um schwierige Familienverhältnisse und am Rand um totalitäre Sekten.

Das mag jetzt alles furchtbar ernst und schwer klingen. Karin Slaughter erzählt ihre Geschichte aber nicht nur engagiert, sondern auch gekonnt und immer wieder gewürzt mit Humor.

Wertung: 3,8 / 5

Karin Slaughter: Die Vergessene
(Original: Girl, Forgotten. William Morrow & Company, New York 2022)
Aus dem Englischen von Fred Kinzel
HarperCollins, Hamburg 2022. 526 Seiten, 24 Euro/ca. 34 Franken

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Bild: Alison Rosa

Karin Slaughter,

geboren 1971 in Covington im US-Bundesstaat Georgia, arbeitete nach dem Studium an der Georgia State University in Atlanta unter anderem als Kammerjägerin, Designerin und Angestellte in einem Schilderladen, bevor sie selbst ein Geschäft für Schilder betrieb. Dieses verkaufte sie Anfang der 2000er Jahre, um sich der Schriftstellerei zu widmen.

2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Blindsighted“ (Deutsch: „Belladonna“, 2003), der den Auftakt zur im ländlichen Georgia spielenden Grant-County-Serie bildete, die sechs Krimis umfasst (bis 2007); Hauptfigur ist eine Kinderärztin. 2006 startete sie eine in Atlanta spielende Serie mit dem Ermittler Will Trent, in der bis 2020 13 Titel erschienen. Inzwischen hat sie insgesamt zwei Dutzend Romane publiziert und zählt zu den weltweit erfolgreichsten Krimiautorinnen. Ihre Bücher erscheinen in mehr als 25 Sprachen in rund 120 Ländern.

Andrea Oliver, die Hauptfigur des aktuellen Romans „Die Vergessene“, trat bereits 2018 in einem Buch auf: „Pieces of Her“ (Deutsch: „Ein Teil von ihr“, 2018) wurde zur Vorlage für die achtteilige Netflix-Serie mit dem gleichen Titel, die dieses Jahr herauskam.

Karin Slaughter – übrigens kein Pseudonym, sondern ihr richtiger Name – lebt in der Grossstadt Atlanta in Georgia. Als Gründerin der Non-Profit-Organisation „Save the Libraries“ engagiert sie sich für öffentliche Bibliotheken in den USA.


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