Country-Noir-Epos um ,Hombres malos’ am Rio Grande

Der erste Satz
Er donnerte über den Texas Highway 70, hatte das Radio voll aufgedreht und sang laut mit, als er die Frau am Strassenrand winken sah.

Krimi der Woche ∙ N° 19/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Einzelne Ortsbezeichnungen sind zwar fiktiv, doch die Gegend ist klar erkennbar, auch durch Orte, die mit Klarnamen genannt werden wie Terlingua, Presidio und, etwas weiter entfernt, El Paso: Der Südwesten von Texas am Rio Grande, der Grenze zu Mexiko, ist der Schauplatz von „Weisse Sonne“, dem zweiten Roman des DEA-Agenten J. Todd Scott. Es ist eine Fortsetzung des Erstlings „Die weite Leere“, man kann ihn aber problemlos lesen, ohne die Vorgeschichte zu kennen.

Diese Vorgeschichte sorgte für etliche Leichen, darunter auch die des Sheriffs von Murfree, und führte dazu, dass der junge Chris Cherry zum neuen Sheriff wurde, zuständig für ein grosses, dünn besiedeltes Gebiet. Er ist der Typ, der lieber erst mal abwartet und schaut, wie sich etwas entwickelt. Seine Deputys, allen voran der erfahrende Veteran Ben „Harp“ Harper und seine junge Kollegin America „Amé“ Reynosa dagegen bevorzugen die Devise „agieren statt reagieren“.

Die Ermordung eines Flusstourenführers bringt die Truppe aus Murfree, der Ortsname dürfte eine Abwandlung des realen Marfa sein, auf eine Gruppe von Neonazis, die sich im benachbarten Geisterkaff Killing niedergelassen hat, um eine arische Gemeinde aufzubauen. In einer Kneipe hatten sich zwei der Rassisten wegen seiner mexikanischen Freundin mit dem Flussführer angelegt. In Killing treffen der Sheriff und seine Truppe auf JW Earl, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hat, und dessen Söhne und weitere Mitglieder der „Aryan Brotherhood of Texas“.

Scott entwickelt in seinem 500-Seiten-Epos eine ebenso düstere wie komplexe Geschichte um Knastbanden, Drogenhandel, Verrat und Rache. Dabei haben die meisten Protagonisten böse Geheimnisse, die sie auch vor ihren eigenen Leuten verstecken. So auch Deputy Reynosa, die auch als „la chica con la pistola“ bekannt ist, die Jagd auf „Hombres malos“ macht.

„Weisse Sonne“ ist knallhart und zuweilen ziemlich brutal, spannend und realistisch – aus seiner hauptberuflichen Tätigkeit kennt Scott die Vorgehensweisen der Täter wie der Verfolger im Drogenschmuggel und -handel. Doch seine Romane sind deswegen absolut keine trockenen Sachbücher, sondern voller Leben und Emotionen. Auch wenn es mehr um das Sterben als um das Leben geht. Deputy Harp etwa weiss: „Ganz gleich, was die Leute sagen, sterben war einfach, mühelos. Kräftezehrend war nur das Leben.“ Und Scott hat eine bildhafte Sprache. So sind die Augen der Frau, die einem Cop eine Falle stellt, „mit einem Mal schwarz und riesig, die Iris wie grosse Fenster, hinter denen nur leere Räume lagen“ und „ihre flatternden Lider wie dünne Vorhänge, die im Wind wehten“. Und Earls Blick in gewissen Situationen beschreibt er so: „Die Augen tiefenlos wie ein Fernseher, auf dem ein toter Kanal läuft. Hätte das Rauschen zwischen zwei Radiosendern eine Farbe, wäre es diese.“

Wertung: 4,2 / 5

J. Todd Scott: Weisse Sonne
(Original: High White Sun. G.P. Putnam’s Sons, New York 2018)
Aus dem Englischen von Harriet Fricke
Polar Verlag, Stuttgart 2023. 496 Seiten, 27 Euro/ca. 39 Franken

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Bild: © J. Todd Scott

J. Todd Scott,

geboren 1968 in Paducah, Kentucky, ist in Louisville, der grössten Stadt in diesem Bundesstaat, aufgewachsen. Er schloss ein Jura-Studium an der George Mason University in Fairfax, Virginia, ab und schob seine schriftstellerischen Ambitionen zunächst auf, um Bundesagent bei der Drug Enforcement Administration (DEA) zu werden. 2005 zerschlug er einen Drogenring in Louisville, der sich bis nach Cincinnati und Nashville erstreckte. 2013 bis 2016 war er für die DEA in El Paso tätig, wo er für die Gegend zuständig war, die den Schauplatz seiner ersten Romane bilden.

Er begann dann neben der Arbeit als Drogenfahnder zu schreiben und veröffentlichte 2016 seinen ersten Roman „The Far Empty“, der 2021 unter dem Titel „Die weite Leere“ auf Deutsch erschien. Mit „High Withe Sun“ („Weisse Sonne“) setzte er 2018 die Geschichte aus der Big-Bend-Region im Südwesten von Texas fort und schloss 2019 mit „This Side of Night“ die Trilogie ab. Inzwischen hat er zwei weitere Roman veröffentlicht, „Lost River“ (2020) und „The Flock“ (2022).

Als DEA-Agent war er unter anderem in Los Angeles, Port-au-Prince, Phoenix und Houston sowie im Headquarter in Springfield, Virginia, tätig. 2020 wurde er zum Leiter der DEA in den US-Bundesstaaten Kentucky, Tennessee und West Virginia ernannt. Als Special Agent der Louisville Field Division ist er der Chef von fast 400 Drogenfahndern, Analysten und weiteren Mitarbeitern. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.


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