Ein langer Sonntag mit einer spektakulären Geiselnahme

Der erste Satz
Im Wasser umklammerte irgendwas ihre Wade.

Krimi der Woche ∙ N° 48/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger

Die Inhaltsangabe zum neuen Roman „Stunde um Stunde“ von Candice Fox liess mich zunächst die Stirn runzeln. Ein Mädchen ist vor zwei Jahren am Strand von Santa Monica verschwunden, die Polizei von Los Angeles ging davon aus, dass es ertrunken ist und legte den Fall zu den Akten. Zwei Jahre danach, so der Text auf Buchrückseite, „dringen ihre Eltern in das forensische Labor der Strafverfolgungsbehörden ein, nehmen drei Geiseln und stellen ein Ultimatum: Findet endlich unsere Tochter, oder wir werden Stunde um Stunde alle Beweise für andere ungeklärte Fälle vernichten.“

Das erschien mir als arg konstruierte Situation, die mich ungut an den noch etwas ärger konstruierten Plot des Thrillers „The Chain“ des ansonsten grossartigen Autors Adrian McKinty („Der katholische Bulle“) erinnerte. Doch da die Australierin Fox mir nicht nur mit ihrer „Hades“-Trilogie schon ein paar aussergewöhnliche Leseerlebnisse beschert hat, begann ich, noch skeptisch zwar, zu lesen. Und amüsierte mich ziemlich bald über die ziemlich überdrehte Story, die im Wesentlichen an einem Tag, einem Sonntag, spielt und die über gegen fünfhundert Seiten spannend bleibt. Fox kontrastiert harte Action mit Situationskomik, brilliert mir verrückten Ideen und mit witzigen Dialogen.

So wird „Stunde um Stunde“ streckenweise zu einer Satire auf die moderne Polizeiarbeit in der Grossstadt. Wobei der Polizeichef, der eine wichtige Rolle spielt, nicht etwa ein sich auf alle Seiten absichernder alter weisser Mann ist, wie man vielleicht erwartet, sondern eine taffe Frau. Die gleich einmal den Chef des SWAT-Einsatzkommandos, der nicht spuren will, absetzt und seinen Stellvertreter befördert – der sich als selbstbewusste afroamerikanische Frau entpuppt.

Die eigentlichen Hauptfiguren sind indes Charlie „Hoss“ Hoskins und Lynette Lamb. Hoskins wurde vier Tage zuvor verletzt von einer Schwimmerin aus dem Meer gerettet. Er hatte als Undercover-Cop eine Rockergang unterwandert, war aufgeflogen und gefoltert worden, bevor er sich von einem Boot ins Meer stürzte. Lamb war Polizeianwärterin, war aber zwei Tage nach der Rettung Hoskins’ an ihrem ersten Arbeitstag gleich wieder rausgeschmissen worden. Denn von ihrem Computer aus hat ein Mann, den sie für eine heisse Nacht mit in ihre Wohnung genommen hat, das Netzwerk der Polizei von L. A. gehackt und Hoskins enttarnt.

Lamb will beweisen, dass sie eine gute Polizistin ist. Deswegen heftet sie sich an Hoskins’ Fersen – und bildet mit ihm schliesslich ein Team. Er will – inoffiziell, denn die Polizei will nicht ihre alte Ermittlung desavouieren – das angeblich ertrunkene Kind finden, weil er fürchtet, dass die Geiselnehmer im Forensik-Labor sonst auch die dort lagernden Beweise gegen die Gang, die er infiltriert hatte, zerstören würden.

Die Suche nach dem verschwundenen Kind, während der Hoskins seine Aversionen gegen Lamb langsam ablegt, wird zum Wettlauf gegen die Zeit. Gleichzeitig versuchen, in einem Nebenstrang der Story, Hoskins und seine Retterin gegenseitig sich zu finden, weil sie draussen im Meer eine Verbindung gespürt hatten. Daneben gibt es weitere originelle Figuren, darunter insbesondere den Leiter des Labors, der als Geisel gehalten wird und sich immer mehr einzumischen beginnt.

 „Stunde um Stunde“ ist eine reichlich schräge Geschichte, nicht wirklich realistisch im grossen Ganzen, aber mit vielen Details, die wie aus dem Leben gegriffen wirken. Auf jeden Fall eine höchst unterhaltsame Lektüre.

Wertung: 4 / 5

Candice Fox: Stunde um Stunde
(Original: Fire With Fire. Bantam Australia, Sydney 2023)
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Suhrkamp, Berlin 2023. 475 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken

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Bild: Penguin Random House Australia

Candice Fox,

geboren 1985 in Bankstown, einer Vorstadt von Sydney in Australien, wuchs bei Pflegeeltern in einer eher exzentrischen Grossfamilie mit „Halb-, Adoptiv- und Pseudogeschwistern“ auf. Schon als Teenager begann sie zu schreiben. Zwischen Schule und Studium war sie kurz in der Royal Australian Navy. Nach dem Studium gab sie Literaturkurse an der University of Notre Dame Australia in Sydney.

Bevor ihr erster Roman von einem Verlag angenommen wurde, habe sie rund 200 Absagen erhalten, erzählte sie in Interviews. „Hades“, der erste Band einer schrägen Trilogie um ein Geschwisterpaar, das bei der Polizei arbeitet, daneben aber auf eigene Faust Verbrecher abserviert, die sich der Justiz entziehen können, erschien 2014 und wurde mit dem bedeutenden Ned Kelly Award für das beste australische Krimidebüt ausgezeichnet, der Folgeroman „Eden“ mit dem Award für den besten Roman des Jahres. Die drei Romane – „Hades“, „Eden“, „Fall“ – sind unter den Originaltiteln auf Deutsch erschienen (Suhrkamp), ebenso die dreiteilige Crimson-Lake-Serie mit dem unkonventionellen Ermittlerduo Ted Conkaffey und Amanda Pharrell: „Crimson Lake“, „Redemption Point“ und „Missing Boy“. Es folgten die Standalones „Dark“ (2020) und „606“ (2022). Fox hat zudem zwischendurch etwa ein halbes Dutzend Romane als Co-Autorin des amerikanischen Bestsellerproduzenten James Patterson, der mit einer ganzen Reihe von Autoren zusammenarbeitet, geschrieben.

„Crimson Lake“ wurde in Australien unter dem Titel „Troppo“ als achtteilige TV-Serie verfilmt. Candice Fox, die sich als „Handwerkerin, Tierliebhaberin und Weintrinkerin“ beschreibt, lebt in Sydney.


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