Die Sünden der Väter und ihre bösen Folgen
Der erste Satz
Ich schreibe so viele Briefe und krieg es einfach nicht fertig, sie abzuschicken.
Krimi der Woche ∙ N° 22/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger
Jo ist siebzehn. Sie wächst bei ihrem Grossvater Jeremiah Fitzjurls auf dessen Schrottplatz auf. Ihre Mutter kennt sie nicht. Ihrem Vater schreibt sie Briefe in den Knast, die sie nicht abschickt. „Jo war stark, stärker als irgendein Mädchen, das Jeremiah je unter die Augen gekommen war. Sie hatte mehr Kummer und Entbehrungen durchgemacht als die meisten jungen Frauen ihres Alters.“
Jo und Jeremiah Fitzjurls sind die Hauptfiguren in „Ozark Dogs“. Der zweite Roman von Eli Cranor, der für sein fulminantes Debüt „Bis aufs Blut“ mit dem Edgar Award der Mystery Writers of America ausgezeichnet wurde, spielt wiederum im kleinstädtischen Milieu in den Ozarks in Arkansas, wo der Autor selbst aufgewachsen ist und heute lebt und arbeitet.
„Ozark Dogs“ basiert laut Cranor auf einem Fall, der vor einigen Jahren in seiner Heimatstadt Russellville Schlagzeilen gemacht hat. Und wie in dieser Stadt gibt es im fiktiven Romanschauplatz Taggard ein stillgelegtes Atomkraftwerk, das „Nuclear One“ hiess. Es war der grösste Arbeitgeber in Taggard, viele Menschen zogen nach der Schliessung weg, andere suchten sich andere Beschäftigungen. „Später wurde eine Hühnerfabrik gebaut, eine riesige Anlage, die der von Nuclear One ähnelte, aber schlimmer stank. Die paar Arbeitsplätze, die die Fabrik zu vergeben hatte, gingen an Männer und Frauen, denen es nichts ausmachte, sich die Hände schmutzig zu machen – Migranten, die für ein paar Cent arbeiteten und keine Fragen stellten.“
Die Familie Ledford verlegte sich, nachdem der Alte den Job im Atomkraftwerk verloren hatte, zunächst aufs Meth-Kochen und -Dealen, dann auch auf Rassismus und Religion. Mit den Ledfords verbindet die Fitzjurls’ eine blutige Familienfehde. Jos Vater sitzt, weil er einen Sohn des alten Ledford erschossen hat. Der andere Sohn, der Skinhead Evail, hat sich nach einem Knastaufenthalt und nachdem die eigenen Drogenküche abgebrannt ist, auf Geschäfte mit einem Mexikaner eingelassen: Der will ihm 50 Pfund Meth liefern – nicht für Geld, sondern für ein amerikanisches Mädchen. Dafür hat sich Evail Jo Fitzjurls ausgesucht, um mit dem Deal gleich auch seinen Bruder zu rächen. In der Nacht des grossen Footballduells mit dem Nachbarort, vor dem die Homecoming Queen gekürt werden soll, will er Jo entführen.
Jo gilt als Favoritin für den Titel, doch schliesslich hat einer der Kleinstadthonoratioren dafür gesorgt, dass statt des Mädchens vom Schrottplatz seine Tochter die diesjährige Queen wird. Das hält die taffe Jo jedoch nicht von ihrem Plan ab, in dieser Nacht ihre Unschuld zu verlieren. Sie und der Footballer Colt Dillard haben sich gefunden. Auch er kennt seine Mutter nicht, und Jo sieht in ihm einen Geistesverwandten. Doch dann kommt es zum Streit, und Jo macht sich mitten in der Nacht zu Fuss auf den Heimweg. Wo Evail Ledford sie erwischt und entführt.
Eli Cranor hat einen raffinierten Plot entwickelt, in dem sich die zahlreichen Verwicklungen erst nach und nach offenbaren. Dabei geht es nicht nur um Mord und Entführung, sondern auch um Geheimnisse in Familien, um Familienehre und Loyalitäten, um junge Liebe und heimliche Leidenschaften, um bigotte Prediger und dumpfe Neonazis, um Drogen und Waffen, um Football und Hunde, um das Kleinstadtleben. Und um Gewalt, die immer wieder zu neuer Gewalt führt. Um Sünden der Väter, die auf die nachkommende Generation zurückfallen.
Cranor erzählt spannend und so dicht, dass er für die ganze, recht komplexe Geschichte nur gerade 280 Seiten braucht. Dies gelingt vor allem auch dank den stimmig geschilderten Figuren, zu denen insbesondere Jeremiah gehört, der alte Mann vom Schrottplatz, ein Scharfschütze und Vietnamveteran, der die Sachen lieber selbst an die Hand nimmt, als sie anderen, womöglich amtlichen Ordnungshütern, zu überlassen. Oder Nebenfiguren wie Bruder Frank. Der war Footballcoach, bevor er auf Religion umsattelte und in einem ehemaligen Walmart die „Christ Zone“ gründete. Bei seinen Predigten wird mit den Füssen gestampft, und: „Eine Frau in der Mitte hob beide Hände und wedelte mit den Fingern, als sässe sie im Arkansas Twister, einer Achterbahn drüben in Hot Springs, und wäre bereit für den ersten Sturz in die Tiefe.“ Und da ist Evail Ledfords Mutter, die sich mit der Familienloyalität schwertut. Und Sheriff Mona McNabb, selbst auch durch eine schwierige Familiengeschichte belastet, die den drohenden brutalen Showdown zu verhindern versucht. Cranor zeichnet seine Figuren nicht einfach Schwarz oder Weiss: Indem die Guten auch weniger gute Seiten haben und nicht alle Schlechten einfach nur schlecht sind, wirken die Protagonisten echt.
Mit zwei Romanen hat sich der ehemalige Footballprofi Eli Cranor in der Topliga des Südstaaten Noir etabliert. Und Nachschub ist – hoffentlich bald auch auf Deutsch – unterwegs: In den USA erscheint in diesem Sommer bereits sein vierter Thriller.
Wertung: 4,7 / 5
Eli Cranor: Ozark Dogs
(Original: Ozark Dogs. Soho Press, New York 2023)
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Atrium Verlag, Zürich 2025. 285 Seiten, 24 Euro/ca. 33 Franken
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Bild: Arkansas Tech University / atu.edu
Eli Cranor,
geboren 1988 in Forrest City im US-Bundestaat Arkansas, wuchs als Kind eines Lehrer-Ehepaars in der Kleinstadt Russellville im Pope County, Arkansas, auf. Er studierte zunächst an der Florida Atlantic University in Boca Raton, wo er 2006 im Football-Team der Uni spielte. Er wechselte dann an die private Ouachita Baptist University in Arkadelphia, Arkansas, wo er Englische Literatur studierte. Im Football stieg er im Lauf der Jahre alle Stufen hoch bis in die Profi-Liga. Unter anderem war er Spieler und Trainer der Carlstad Crusaders, eines schwedischen American-Football-Teams. Zurück in Arkansas unterrichtete er an der High-School im Russellville School District, wo er auch das Football-Team coachte.
Für seine Kurzgeschichten wurde er mehrfach ausgezeichnet, so für „Don’t Know Tough“ mit dem Robert Watson Literary Prize des „Greensboro Review“. Diese Erzählung bildete die Basis für seinen ersten Roman mit dem gleichen Titel, der 2024 als „Bis aufs Blut“ auf Deutsch erschienen ist. Doch dafür bekam Cranor zuerst rund zweihundert Absagen von Verlagen. Der Autor William Boyle, der von dem Manuskript begeistert war, wies Cranor auf den Wettbewerb hin, den der erfolgreiche englische Krimiautor Peter Lovesey 2018 zusammen mit dem Verlag Soho Press zum 50-jährigen Jubiläum seines Debüts „Wobble to Death“ ausschrieb. Der beste Erstling sollte nicht nur mit 10’000 Dollar, sondern vor allem auch mit einem Veröffentlichungsvertrag mit Soho Press geehrt werden. Cranor gewann. Der Roman erschien 2022 und wurde von der US-Kritik gefeiert und mit dem Edgar für das beste Debüt ausgezeichnet. Auch sein jetzt auf Deutsch erschienener zweiter Roman „Ozark Dogs“ (2023) wurde zum Bestseller. Im Juli 2024 erschien sein dritter Roman „Broiler“, für August 2025 ist bereits sein vierter angekündigt: „Mississippi Blue 42“.
In der „Arkansas Democrat-Gazette“ schreibt Cranor die wöchentliche Kolumne „Where I’m Writing From“. Im Hauptjob unterrichtet er Englisch in Jugendstrafanstalten in ganz Arkansas. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in London – London, Arkansas, am Lake Dardanelle, einem kleinen Vorort (rund 1000 Einwohner) von Russellville, wo er an der Arkansas Tech University „Writer in Residence“ ist.