Extrem geheime Agentinnen

Der erste Satz
Neunzehn Jahre nachdem sie von zu Hause weggelaufen war, dreizehn Jahre nach ihrer Heirat mit einem Steinmetz, zwölf Jahre nach der Geburt ihrer Tochter und elf Jahre nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war und so tat, als ließe sie die Vergangenheit hinter sich, saß Jane Pool an ihrem Schreibtisch im historischen Fachbereich.

Krimi der Woche ∙ N° 23/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eine für andere unverständliche E-Mail-Nachricht, die ihr im Spam-Ordner aufgefallen ist, wirft das geordnete Leben, das Jane Pool seit einigen Jahren sich zu führen bemüht, von einem Tag auf den anderen über den Haufen. Jane ist sofort klar, dass die Nachricht von ihrer Zwillingsschwester Lila kommt, mit der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hat. Die Nachricht enthält ein Zitat aus einem Buch und eine Telefonnummer. Das Zitat führt Jane zu einer Zahlenkombination. Diesen Code gibt Jane ein, als sie von einem der letzten öffentlichen Telefone im Ort die Nummer aus der Mail anruft. Die Verbindung bricht sofort ab. Dann, Jane will schon weggehen, klingelt das Telefon. Lila. „Du musst kommen“, sagt sie. „Ich glaube, ich habe sie gefunden.“

„Sie“ ist die Mutter der Zwillingsschwestern, die die titelgebenden Protagonistinnen von „Hard Girls“ sind. Es ist das zehnte Buch des US-Autors J. Robert Lennon und sein erster Thriller. In den USA ist inzwischen bereits eine Fortsetzung erschienen: „Buzz Kill“.

Jane arbeitet in der Verwaltung des Colleges, an dem ihr Vater Professor ist. Sie lebt mit ihrem Mann in der Kleinstadt und versucht, ihrer Teenager-Tochter eine gute Mutter zu sein. Eine bessere, als ihre Mutter war. Die verschwand immer mal wieder, liess ihre Töchter beim Vater zurück, und wenn sie wieder da war, kümmerte sie sich kaum um sie. Und eines Tages verschwand sie endgültig.

Lennon hat um die Zwillingsschwestern einen raffinierten Plot gebaut, der vom Aufwachsen der Zwillinge in der schwierigen Familie und ihrem Ausreissen und mehrjährigen Herumtreiben als Teenager, von der Rückkehr Janes nach einem Gefängnisaufenthalt in ein bürgerliches Leben und von der Suche der erwachsenen Zwillinge nach ihrer verschwundenen Mutter erzählt. Da sich diese Geschichten auf allen Ebenen parallel erst nach und nach entwickeln, sei hier nicht zu viel darüber verraten.

„Hard Girls“ ist zu einem wesentlichen Teil ein Familiendrama, ein Stück weit aber auch eine Coming-of-Age-Geschichte, enthält Elemente eines Roadmovies und ist am Ende doch ein Thriller, in dem gewisse Agentinnen und Agenten so geheim sind, dass nicht einmal ihre Familie davon etwas ahnt. Die Geschichte ist spannend und bietet Action, ist nicht oberflächlich, aber auch ziemlich vergnüglich. Denn Lennon würzt die komplexe Story mit reichlich Ironie und Sarkasmus, mit etwas Situationskomik und mit gewitzten Beschreibungen. Zum Beispiel so: „Die Musik in der Warteschleife des Dekans klang wie der Soundtrack eines Pornofilms aus den 70er Jahren, der mit einem Kassettenrekorder direkt vor dem Fernseher aufgenommen und fünfzig Jahre unter Wasser gelagert worden war.“

Wertung: 4,3 / 5

J. Robert Lennon: Hard Girls
(Original: Hard Girls. Mullholland Books, New York 2024)
Aus dem Englischen von Stefan Lux
Suhrkamp, Berlin 2025. 416 Seiten, 18 Euro/ca. 26 Franken

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Bild: Cornell University/cornell.edu

J. Robert Lennon,

geboren 1970 in Easton, Pennsylvania, wuchs auf der anderen Seite der Bundesstaatsgrenze in der Kleinstadt Phillipsburg, New Jersey, auf. Er studierte Englisch an der University of Pennsylvania in Philadelphia, wo er 1992 mit dem B.A. abschloss, und an der University of Montana in Missoula, wo er 1995 mit dem M.F.A. abschloss.

1997 veröffentlichte er seinen ersten Roman „The Light of Falling Stars” („Das Licht der fallenden Sterne“, 1998 bei Goldmann). Seither hat er zehn weitere Romane und drei Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Auf Deutsch erschienen sind auch „The Funnies“ (1999; „Die Bilderbuchfamilie“, 2000, Goldmann) und „Mailman“ (2003; „Postmann“, 2005, Goldmann). Auf seiner 2008 erschienene Shortstory „The Remberer“ basiert die TV-Krimisserie „Unforgettable“ (2011 bis 2016, vier Staffeln mit insgesamt 61 Folgen). Der jetzt neu unter dem Originaltitel „Hard Girls“ auf Deutsch vorliegende Roman erschien auf Englisch 2024. Im März 2025 erschien in den USA die Fortsetzung „Buzz Kill“.

Lennon ist auch Musiker und Komponist. In den frühen 1990ern war er Frontman der Band Wicked Bison, die in der Bar- und Studentenszene in Philadelphia auftrat. Als Solokünstler veröffentlichte er unter dem Namen Inverse Room seit 2002 mehrere Rockalben, zuletzt 2024 „The Mystic Initiate Enjoys a Sunny Day“. Mit der Starry Mountain Sweetheart Band veröffentlichte er von 2013 bis 2017 drei Alben. Zudem ist er mit dem Musiker Jim Spitznagel Teil des Elektronik-Duos The Bemus Point, das seit 2005 Alben veröffentlicht, zuletzt „Pand Andia Mor“ (2021). Die Alben sind via Bright Small Songs auf Bandcamp zu finden.

Er lebt in Ithaca im US-Bundesstaat New York, wo er seit 2011 an der Cornell University lehrt und das Creative-Writing-Programm leitet. Zudem schreibt er Literaturkritiken unter anderem für „New York Times Book Review“ und „The London Review of Books“.


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