Die Pflanzentoxikologin ist auch Voyeurin

Der erste Satz
Im Nordwesten von London gibt es ein flaches Dach, das man weder von der Straße noch von den Fenstern der benachbarten Häuser sehen kann, weil es ganz oben in einem hohen Wohngebäude in einer ruhigen Nebenstraße liegt.

Krimi der Woche ∙ N° 33/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger

Eine offenbar etwas schrullige englische Professorin, die sich auf toxische Pflanzen spezialisiert hat und in einen mysteriösen Giftmordfall verwickelt wird? Not my cup of tea, denke ich zunächst. Doch schon bei der skeptischen Lektüre der ersten Seiten zeigt sich, dass der Roman „Devil’s Breath“ der māorisch-britischen Autorin Jill Johnson, der jetzt unter dem Titel „Nachtschattengewächse“ auf Deutsch vorliegt, gar nicht so cosy wie befürchtet ist. Devil’s Breath ist die englische Bezeichnung für die auf Deutsch als Engelstrompete bekannte Brugmansia arborea, einem laut einem kurzen „Pflanzenglossar“ im Anhang des Buches „hochtoxischen, blühenden Busch, reich an Scopolamin“. Gedächtnisverlust, Delirium, Psychosen kann die potenziell tödliche Pflanze hervorrufen. (Offenbar wird Engelstrompete auch als LSD-Ersatz konsumiert, und kolumbianische Strassenräuberbanden nutzen sie, um ihre Opfer willenlos zu machen. Aber davon handelt der Roman nicht.)

Die eingangs erwähnte Professorin ist die Icherzählerin. Eustacia Rose, so ihr Name, spricht es zwar nie aus, aber sie ist offensichtlich von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen: „Seit jeher komme ich mit Pflanzen besser aus als mit Menschen und neige dazu, Menschen nach Pflanzen zu benennen, denen sie am meisten ähneln. Darauf hat Vater mich gebracht, als ich noch ein Kind war, denn ich hatte Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen und mir Namen zu merken.“ Mühe bereitet ihr auch das Deuten von Emotionen. Was sie auch nie direkt anspricht, ist ihre Homosexualität.

Vor einem Jahr hat Professor Rose ihren Vater verloren. Und ihren Job an der Universität. Seither trägt sie die alten Anzüge ihres Vaters. Was an der Uni passiert ist, erfährt man erst nach und nach, als sie erneut mit dem Polizeidetektiv zu tun bekommt, der schon die Kontaminierung ihres Universitätslabors mit Pflanzengift untersucht hatte. Ihr Studium giftiger Gewächse führt sie seit dem Jobverlust privat weiter. Auf dem Dach über ihrer Wohnung in London hegt und pflegt sie toxische Pflanzen.

Auf dem Dach hat sie auch leistungsstarkes Teleskop. Wie ihr Vater erkundet sie damit die Phänomene des Himmels. Will sie uns jedenfalls weismachen. Tatsächlich beobachtet sie damit ihre Nachbarschaft, angeblich für eine Art wissenschaftliche Gesellschaftsstudie. Dabei weckt eine schöne, junge Frau in einem Reihenhaus ihr besonderes Interesse. Sie beobachtet wechselnde Männerbesuche, sieht auch, wie der jungen Frau Gewalt angetan wird. Sie arrangiert ein scheinbar zufälliges Kennenlernen. Später wird sie sich fragen, ob nicht umgekehrt die junge Frau sie im Visier hatte. Nachdem sie ihr ihren geheimen Garten gezeigt hat, bricht jedenfalls das Chaos los: Der Garten wird bei einem Einbruch verwüstet, einzelne Pflanzen werden gestohlen. Ein alter Bekannter der Professorin stirbt durch Pflanzengift. Und der Detective steht wieder bei Rose auf der Matte.

Jill Johnson hat für ihren ersten Krimi (ihr zweiter Roman) eine originelle Variation des seit Hitchcocks Film „Rear Window“ (nach einer Shortstory von Cornell Woolrich) klassischen Genre-Topos des Voyeurs mit dem Fernrohr ausgeheckt. Hier ist es eine lesbische Voyeurin, die sich durch ihre Beobachtungen in fatale Verstrickungen ziehen lässt. Im Wesentlichen ist „Nachtschattengewächse“ ein Whodunit, der etwas holzschnittartig geplottet ist – wobei comicartig wohl treffender ist, war die Autorin doch lange Jahre im Comic-Business. Dass auch Pflanzen zu ihren Leidenschaften gehören, ist unübersehbar, doch der spannend und mit trockenem Humor erzählte Roman lebt vor allem von der eigenwilligen Protagonistin. Ob sie dieser genügend weitere Facetten abgewinnen kann, um sie weiterhin interessant erscheinen zu lassen, muss sich weisen – „Nachtschattengewächse“ ist der erste Band einer Reihe; in England liegen bereits zwei weitere Bände vor.

Wertung: 3,6 / 5

Jill Johnson: Nachtschattengewächse
(Original: Devil’s Breath. Black & White, Edinburgh 2023)
Aus dem Englischen von Stefanie Kremer
Atrium Verlag, Zürich 2025. 336 Seiten, 24 Euro/ca. 35 Franken

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Bild: goodreads.com, Profilbild

Jill Johnson,

geboren 1967, ist māorisch-britischer Abstammung. Sie lebte nach eigenen Angaben in Südostasien, Europa und Neuseeland. Mit 18 Jahren zog sie nach London, wo sie im Jahr darauf den Comicshop Gosh! eröffnete (der noch heute besteht). Mit ihrem Partner gründete sie zudem einen Verlag für Graphic Novels und eine Galerie für Karikaturen. Neben diesen geschäftlichen Aktivitäten und dem Aufziehen ihrer drei Kinder machte sie auch einen B.A.-Abschluss in Ornamental Horticulture and Design (Zierpflanzenbau und -design).

2012 trennte sie sich von ihren Comic-Geschäften. Denn eigentlich wollte sie schon immer Schriftstellerin werden. 2013 reichte sie ihre Arbeiten beim renommierten Verlag Faber & Faber ein und wurde daraufhin in die Faber Academy aufgenommen, in deren Rahmen sie an ihrem ersten Roman arbeitete: „The Time Before the Time To Come” erschien 2018; es ist ein historischer Roman, der sechs Generationen einer Familie umfasst und in Neuseeland vor der Ankunft der Europäer beginnt. „Das Buch basiert auf meinem maorischen Erbe und erzählt die Geschichten der vielen starken Frauen in meiner Familie“, sagte sie darüber 2024 in einem Interview. Zu ihrer Romanreihe mit der Pflanzentoxikologen Eustacia Rose, deren erster Band jetzt auf Deutsch erschienen ist („Nachtschattengewächse“; Original: „Devil’s Breath“, 2023), sagte sie im gleichen Interview: „Ich habe zwei Leidenschaften: das Schreiben und Pflanzen. Daher war es für mich ganz natürlich, eine Protagonistin zu erschaffen, die Botanikerin ist. Ausserdem wollte ich einen Krimi schreiben, was bedeutete, dass jemand sterben musste, vorzugsweise durch eine Pflanze, und wer könnte den Mord besser aufklären als eine botanische Toxikologin?“ In Grossbritannien sind inzwischen bereits zwei weitere Titel erschienen, „Hell’s Bells“ (2024) und „Bella Donna“ (2025).

Jill Johnson arbeitet nach eigenen Angaben hauptberuflich in der medizinischen Forschung und schreibt in ihrer Freizeit. Sie lebt in Brighton.


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