Tief korrupt, aber immer ein Bibelzitat auf den Lippen

Der erste Satz
Als das Telefon klingelte, lag Avi mit Natasha im Bett.

Krimi der Woche ∙ N° 16/2024 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es beginnt mit einem brutalen Bombenanschlag in Tel Aviv. Den Gangster, dem der Anschlag höchst wahrscheinlich gegolten hat, hat die Autobombe um ein, zwei Minuten verpasst. Dafür hat sie zufällig vorbeigehende Schulkinder verletzt und getötet. Oder stecken palästinensische Terroristen dahinter? Cohen, der leitende Ermittler der Polizei, lässt diesen Verdacht gegenüber der Öffentlichkeit gerne stehen. Während er den jungen Polizisten Avi, der in lokale Bandenfehden verstrickt ist, losschickt, die Bombenleger zu töten.

Mit diesen Ereignissen beginnt der Thriller „Maror“ des aus Israel stammenden Autors Lavie Tidhar, der zuvor für seine Science-Fiction- und Fantasy-Bücher berühmt geworden ist. Cohen ist die zentrale Figur dieses episch angelegten Thrillers. Nach dem Einstieg mit dem Attentat in Tel Aviv im Jahr 2003 blendet Tidhar zurück ins Jahr 1974. Der junge Polizist Cohen ist mit dem Fall eines toten Mädchens, das am Strand gefunden wird, befasst. Er prügelt aus einem wahrscheinlich unschuldigen Bekannten des Mädchens ein Geständnis – und bringt damit seine Karriere so richtig in Gang. Über vier Jahrzehnte zieht sich dann chronologisch in kleineren und grösseren Schritten die Handlung, die nicht eine zusammenhängende Story erzählt, sondern eine ganze Reihe von Geschichten. Und diese Storys werden gleichzeitig zu einer eindrücklichen Geschichte des Staates Israel.

„Maror“ erinnert von der Konstruktion her etwas an das Drogenkartellepos von Don Winslow oder das breit angelegte Los-Angeles-Quartett von James Ellroy. Wie diese verwebt Tidhar geschickt tatsächliche Ereignisse mit mehr oder weniger fiktiven „kriminellen“ Geschichten. Wobei sich da Fakten und Fiktion oft kaum trennen lassen. Etwa wenn es um Betrügereien bei Landkäufen im Westjordanland geht, um Waffen- und Drogenhandel und um Korruption.

Der tief korrupte Cohen, immer ein passendes Bibelzitat auf den Lippen, der alle – Gangster wie Politiker – und ihre Geheimnisse kennt, hält diese Geschichten lose zusammen. Er ist jedoch nicht eine Hauptfigur im Sinne, dass sie aktiv handeln würde. Er steht immer irgendwo im Halbdunkel, behält die Fäden in der Hand und steuert das Geschehen, das sich vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung des Landes abspielt. Vom Wahlsieg des rechten Likud-Blocks unter Menachem Begin bis zur Ermordung Jitzchak Rabins. Und irgendwo in einer düsteren Bar sitzt Golda Meir und „hustet Krebs“.

Der furiose Noir-Thriller handelt nicht nur davon, wie skrupellose Gangster und auch Staatsdiener und Politiker die Wirrungen beim Aufbau des jungen Staates hemmungslos für kriminelle Geschäfte ausnutzen. Sondern auch von der Korruption der Macht, vom Zynismus, mit dem Ideologie für die eigene Gier missbraucht wird und auch die übelsten Mittel durch den Zweck geheiligt werden. Das mag jetzt etwas schwer und sperrig klingen, doch „Maror“ ist ein zwar düsterer, aber packender Roman, gewürzt mit schwarzem Humor und reichlich Action. Ein virtuoses Meisterstück.

Der Begriff Maror steht übrigens für ein bitteres Kraut, das eine der sechs Zutaten auf dem jüdischen Pessach-Seder-Teller ist. Es steht da für die bittere Sklaverei, welche die Juden in Ägypten erlitten. Als Buchtitel symbolisiert „Maror“ hier eine neue Bitterkeit, die in Zusammenhang mit dem Aufbau Israels steht.

Wertung: 4,8 / 5

Lavie Tidhar: Maror
(Original: Maror. Head of Zeus, London 2022)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Suhrkamp, Berlin 2024. 639 Seiten, 22 Euro/ca. 32 Franken

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Bild: goodreads.com

Lavie Tidhar,

geboren 1976 in Dalia, einem Kibbuz im ländlichen Norden Israels, zog schon als Teenager mit 15 Jahren als Traveler hinaus in die Welt. Er lebte längere Zeit in Grossbritannien und in Südafrika, zeitweise auch in Laos und auf der Insel Vanuatu im Südpazifik.

Er veröffentliche zunächst Gedichte auf Hebräisch, bevor er begann, auf Englisch Kurzgeschichten vor allem im Bereich Science-Fiction und Fantasy zu schreiben, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 veröffentlichte er zusammen mit dem Autor und Musiker Nir Yaniv den düsteren Fantasy-Roman „The Tel Aviv Dossier“. 2010 bis 2012 erschien seine Bookman-Histories-Serie. Sein Roman „Osama“ wurde 2012 als bester Roman mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Seither hat er mehr als ein Dutzend weitere Romane veröffentlicht und wurde im Bereich Science-Fiction und Fantasy zum Star. Dennoch ist sein Thriller „Maror“ jetzt sein erstes Werk, das auf Deutsch erscheint.

Seit 2013 lebt Lavie Tidhar mit seiner Frau in London.


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