Wie soziale Kontrolle zu Gewalt wird

Der erste Satz
Hinter der Glaswand liegt eine Frau auf der Seite und schläft.

Krimi der Woche ∙ N° 39/2025 ∙ Hanspeter Eggenberger

In nicht allzu ferner Zukunft, in den Jahren 2049 und 2050, spielt „Tödliche Transparenz“, der dritte Roman der französischen Journalistin und Schriftstellerin Lilia Hassaine („Bittere Sonne“). Wobei am Anfang ein Blick zwanzig Jahre zurück geworfen wird, „als unsere Städte, ehemals Dschungel, zu Zoos wurden“: 2029 wurde per Abstimmung in den sozialen Medien in Frankreich die totale Transparenz eingeführt. „Vergewaltigungen, Misshandlungen, Missbrauch, Überfälle, sämtliche gegen Menschen oder gegen Tiere gerichteten Gewalttaten haben eines gemeinsam: Sie geschehen hinter verschlossenen Türen, hinter Mauern, in den Schlafzimmern der Häuser, den Aufzügen der Unternehmen. Geschlossene Räume sind gefährlich“, dozierte damals der Architekt der neuen Ordnung. Und deshalb sollten alle zum Wohle aller auf einen Teil ihrer Privatsphäre verzichten. Wenn man nichts zu verbergen habe, könne man auch alles zeigen.

Darum leben nun, 2049, die meisten Menschen in gläsernen Häuser. Alle sehen alles von allen. Die soziale Kontrolle lässt die Kriminalität fast verschwinden. Doch dann verschwindet eine Familie, Frau, Mann, ein Junge, ohne dass jemand etwas gesehen hat. Oder gesehen haben will.

Hélène Dubern, ehemalige Polizeidetektivin und heute beim unbewaffneten Sicherheitsdienst der gläsernen Gesellschaft, ist zusammen mit ihrem Kollegen Nico mit dem Fall betraut. Trotz breiten Befragungen und Recherchen finden sie keine Spur der verschwundenen Familie. Diese war offenbar eher unkonventionell für das Nobelviertel, in dem sie lebten, und entsprach nicht so ganz den Vorstellungen der Nachbarn.

Héléne, Protagonistin, war einst Feuer und Flamme für die Transparenz, doch nicht erst im Verlauf der Ermittlungen mehren sich ihre Zweifel. Auch weil ihr Lebenspartner David, der einmal sagte, „Und wenn wir nun vollkommen transparent wären, so transparent, dass wir daran kapputgehen?“, sie verlässt. Ihr ist klar geworden, dass sie selbst, und darum wohl auch meisten anderen in den gläsernen Häusern, den anderen eine Rolle vorspielen.

Eine zufällige schreckliche Entdeckung bringt den Fall der verschwundenen Familie, der inzwischen nicht mehr weiterverfolgt worden ist, Monate später zurück und offenbart „Gewalt, die wir eingeschlafen glaubten“. Hélène nimmt die Ermittlungen wieder auf. Die Ergebnisse, die sich daraus ergeben, kommen nicht völlig überraschend. Aber „Tödliche Transparenz“ ist auch kein konventioneller Whodunit, obwohl es um die Suche nach den Tätern geht, sondern ein dystopischer Thriller. Zentral ist der Background der eigentlichen Krimihandlung: ein Kontroll- und Überwachungssystem orwellschen Zuschnitts, das von seinen Erfindern als „Transparenz“ verbrämt wird, nach dem Motto: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Die Autorin findet ein paar besonders böse Bilder, um zu zeigen, wie gnadenlos fies so ein vorgeblich soziales System ist. Zum Beispiel die gläsernen Gefängnisse, deren Zellenwände aus Einwegspiegeln bestehen.

Lilia Hassaine zeigt eindrücklich, wie angebliche Transparenz zu umfassender sozialer Kontrolle führt, die Druck auf die Menschen ausübt, zu diktatorischen Tendenzen, die in Gewalt, indirekter wie direkter, münden. Das ist nicht einfach Science-Fiction-Fantasie, sondern eine Reflexion aktueller Trends. Influencer:innen, die ihr Privatleben öffentlich zelebrieren, sind längst ebenso alltäglich wie Reality-TV-Shows, in denen die Teilnehmer, zuweilen buchstäblich und metaphorisch sowieso, die Hosen runterlassen. Immer öfter geraten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wegen ihres Privatlebens, das nicht allen gefällt, in Kontroversen und Shitstorms. Allenthalben wird die Moralkeule geschwungen. Und wer sich nicht an den Mainstream anpassen will, wird zurechtgestutzt. Lilia Hassaines Roman zeigt, wohin solche Tendenzen führen können.

Wertung: 4 / 5

Lilia Hassaine: Tödliche Transparenz
(Original: Panorama. Editions Gallimard, Paris 2023)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2025. 249 Seiten, 26 Euro/ca. 29 Franken

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Bild: Francesca Mantovani/©Ed. Gallimard

Lilia Hassaine,

geboren 1991 in Corbeil-Essonnes, einer Stadt an der Seine in der Region Île-de-France, etwa 30 Kilometer südlich von Paris, studierte Literatur und schloss danach 2015 am Institut français de presse mit einem Diplom in Journalismus ab. Sie arbeite unter anderem für den TV-Kanal arte sowie für die Zeitungen „Le Parisien“ und „Le Monde“. 2019 lief sie für den Modedesigner Jean-Paul Gaultier an der Pariser Fashion Week.

Ihr erster Roman „L’Œil du paon” erschien 2019. In ihrem zweiten Roman „Soleil amer“ (2021; Deutsch: „Bittere Sonne“, 2024 bei Lenos) geht es um Einwanderer in Paris von den fünfziger bis in die achtziger Jahre; ihre Vorfahren sind aus Algerien nach Frankreich eingewandert. „Panorama“ (2024), jetzt unter dem Titel „Tödliche Transparenz“ auf Deutsch erschienen, ist ihr dritter Roman.

Das University of London Institute in Paris verlieh ihr 2022 den Ehrendoktor für Literatur. Seit 2024 präsentiert sie „Aux livres etc.“, eine neue Literatursendung der frankophonen öffentlichen Radios auf France Inter. Gemäss einem Interview, das sie der Zeitung „Libération“ gab, wurde sie 2023 Mutter eines Sohnes, der Vater sei ein TV-Produzent.


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